»Wir brauchen den großen Wurf«
Lange Zeit waren Abgrenzungsbestrebungen zwischen Hebammen und ÄrztInnen alltäglich, die ja beide für die Betreuung von Frauen und Säuglingen verantwortlich sind. Da gab es GynäkologInnen, die Frauen verbieten wollten, auch von Hebammen Vorsorgeuntersuchungen vornehmen zu lassen. Gelegentlich wurden die Eintragungen der Hebammen im Mutterpass durchgestrichen. Und es gab Hebammen, die eine Betreuung ablehnten, wenn die Frauen auch noch zu »ihrem Gynäkologen« gehen wollten. Manche Kolleginnen wollten Frauen auch bei Regelwidrigkeiten weiter alleine betreuen, um sie vor dem klinischen System zu bewahren. Andere lehnten die Betreuung ab, wenn eine Frau eine Ultraschalluntersuchung durchführen ließ.
Heute sind solche Konflikte seltener, aber noch sind sie nicht beigelegt. Neue Wege einer echten Zusammenarbeit gibt es auf lokaler Ebene. Sie sind meist getragen vom starken Willen einzelner Personen und einem gewachsenen Vertrauen zueinander. Als Zeichen einer Annäherung kann auch die gemeinsame Pressemeldung von den Berufsverbänden der GynäkologInnen und der Hebammen über die dramatische Situation in vielen Kreißsälen gewertet werden (DHV 2018).
Es gibt sie also, die guten Ansätze. Um aber die Probleme der Geburtshilfe in Zukunft zu lösen, wird es da ausreichen, gemeinsam auf Missstände hinzuweisen oder Regelungen zu finden, um sich nicht übermäßig in die Quere zu kommen?
Fachkräftemangel und Fragmentierung:ein Teufelskreis
Wie überall auf der Welt ist auch in Deutschland der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen spürbar und er wird sich noch verstärken. Rund 111.000 ÄrztInnen (Roland Berger Consultants 2013) und 270.000 Fachkräfte der Gesundheitsfachberufe (Bundesinstitut für Berufsbildung BIBB 2017) sollen bis 2035 fehlen. Und bei den Hebammen sind bereits Meldungen von unzähligen unbesetzten Stellen in den Kreißsälen an der Tagesordnung. Zahlreiche Frauen finden keine Hebamme, die sie betreut.
Die WHO hat bereits 2006 auf die Folgen des sich dramatisch zuspitzenden Fachkräftemangels hingewiesen und Maßnahmen angemahnt (WHO 2006). Zusammen mit der auch in Deutschland üblichen fragmentierten Gesundheitsversorgung führt dies dazu, dass Verbesserungen im Gesundheitswesen nicht wirksam werden können.
In Deutschland sind diese Probleme besonders deutlich: Der stationäre Bereich arbeitet getrennt vom ambulanten, obwohl PatientInnen und schwangere Frauen eine verzahnte Betreuung benötigen. Und unser Gesundheitswesen ist arztzentriert, obwohl die Qualifikationen anderer Berufsgruppen häufig geeigneter wären, um PatientInnen in einer Art Lotsenfunktion zu betreuen. Alle Gesundheitsberufe grenzen sich zudem stark voneinander ab, so dass einerseits die Zusammenarbeit nicht gut funktioniert, aber auch im Falle eines Fachkräftemangels die Betreuung von PatientInnen nicht auf dem erforderlichen Niveau erfolgen kann (Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 2007).
Die WHO betont, dass die mangelhafte Zusammenarbeit und die Konkurrenz zwischen den Gesundheitsberufen nicht nur den Fachkräftemangel verstärken, sondern auch zu weiteren Problemen und insgesamt zu einem schlechteren Outcome im Gesundheitswesen führen (WHO 2010).
Kollaboration oder Kooperation:Wir stören uns noch!
Eine bessere Zusammenarbeit – wie kann diese aussehen, wenn es eben nicht darum gehen soll, eigene Claims abzustecken, um sich nicht in die Quere zu kommen? Die WHO empfiehlt die »Collaborative Practice (CP)«, eine »kollaborative Zusammenarbeit«, im Gegensatz zur »Cooperative Practice«, der »kooperativen Zusammenarbeit«. Nun hat der Begriff der Kollaboration im Deutschen häufig einen negativen Beigeschmack. »Kollaborative Zusammenarbeit« wird im Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg als »Zusammenarbeit mit dem Feind« oder eine »verräterische Zusammenarbeit« verstanden (im Französischen »collaboration«). Und leider ist es ja so, dass besonders kritische Berufsangehörige bei den ÄrztInnen und den Hebammen die enge Zusammenarbeit zwischen unseren Berufen tatsächlich als negativ bis hin zum Verrat betrachten.
Im Englischen ist jedoch die Bedeutung ausgesprochen positiv: »Collaborative« steht für eine Zusammenarbeit, die eine direkte Interaktion der Beteiligten voraussetzt, um in der gemeinsamen Abstimmung das bestmögliche Ergebnis zu erreichen (Kozar 2010). Unter einer »Cooperation« wird hingegen verstanden, dass die Beteiligten bei der Arbeit zwar ein gemeinsames Ziel verfolgen, dies jedoch möglichst parallel, ohne sich zu stören, aber auch ohne sich dabei zu begegnen. Es wird ein Regelwerk entwickelt, um Störungen zu verhindern.
Sicherlich haben ÄrztInnen und Hebammen ein gemeinsames Ziel, nämlich die Gesundheit von Frauen und Kindern zu fördern und zu erhalten. Jede Berufsgruppe ist jedoch bestrebt, dieses Ziel möglichst unabhängig von der anderen zu erreichen. Und die Regeln, besonders die Mutterschaftsrichtlinien, sind noch nicht einmal geeignet, eine Störung der beiden Berufe bei der Schwangerenvorsorge zu verhindern: Zunächst einmal sind sie ausdrücklich für die ärztliche Schwangerenvorsorge erstellt worden. Demzufolge sind die Verantwortlichkeiten unklar geregelt. Die unterschiedlichen Abrechnungsregelungen für beide Berufsgruppen führen immer wieder zu Konflikten. Insgesamt haben wir also im besten Falle eine kooperative Zusammenarbeit, jedoch klappt nicht einmal diese – wir stören uns dabei noch!
Über- und Unterversorgung:schlechteres Outcome
Die Abgrenzung der Berufsgruppen voneinander, die Alleinvertretungsansprüche auf beiden Seiten, auch Dominanzansprüche einer Berufsgruppe über die andere, helfen uns leider kein Stück weiter, tragfähige Konzepte zu entwickeln für die anstehenden Probleme.
Und neue Konzepte sind dringend notwendig, denn allgemein und auch in Deutschland gibt es ein großes Verbesserungspotenzial: Weltweit lässt sich beobachten, dass in der Geburtshilfe viele Frauen »zu viel, zu schnell« Interventionen erhalten, während andere Frauen benötigte Untersuchungen und Behandlungen »zu wenig, zu langsam« bekommen (The Lancet 2016).
Beides hat negative Einflüsse für das Outcome von Frauen und ihren Kindern, und dennoch ist es auch in Deutschland an der Tagesordnung: Über 60 % aller Schwangeren werden als Risikoschwangere diagnostiziert. Trotz normaler Schwangerschaftsentwicklung erleben die meisten Frauen eine Vielzahl an diagnostischen Maßnahmen, für deren Nutzen es keine Evidenzen gibt und die oft nicht einmal in den Mutterschaftsrichtlinien so oft vorgesehen sind wie tatsächlich durchgeführt. Das gilt zum Beispiel für routinemäßige CTGs und Ultraschalluntersuchungen. Gleichzeitig erhalten viele andere Frauen in Deutschland zu wenig Aufmerksamkeit in der Schwangerschaft, obwohl sie diese dringend bräuchten. So nehmen Frauen aus bildungsfernen und ärmeren Milieus oder mit Migrationshintergrund weiterhin weniger Vorsorgeuntersuchungen wahr. Zudem haben sie ein höheres Risiko für ein schlechteres Outcome – für sich selbst und für ihr Kind –sowie für geringere Stillquoten (Brenner et al. 2013).
Die WHO stellt heraus, dass Forschungsarbeiten aus 50 Jahren in allen Kontinenten bewiesen haben, dass die Collaborative Practice zu einem besseren Outcome auch in der Geburtshilfe führt. Es wurde zudem gezeigt, dass die Ressourcen im Gesundheitswesen generell effizienter und effektiver eingesetzt werden können. Als weiterer Vorteil stellt sich eine höhere Arbeitszufriedenheit der Berufsangehörigen ein, wenn die interprofessionelle Zusammenarbeit verbessert wird. Auch dies kann ein Beitrag sein, um dem Fachkräftemangel zu begegnen!
Wie sähe die Schwangerenvorsorge aus, hätten wir eine kollaborative Zusammenarbeit, also eine echte interprofessionelle Zusammenarbeit, wie sie die WHO dringend empfiehlt? Auch hierbei verfolgen die Angehörigen der verschiedenen Berufe ein gemeinsames Ziel. Dieses soll jedoch bei gelebter Collaborative Practice durch einen engen Austausch und Kontakt zwischen den Berufsgruppen und -angehörigen erreicht werden. Wissen und Entscheidungen werden gemeinsam erarbeitet. Dabei wird die Meinung der anderen Berufsgruppe integriert, so dass etwas Neues entsteht. »Wenn Angehörige der Gesundheitsberufe kollaborieren, ist etwas da, was vorher nicht da war« (WHO 2010).
Auf die Schwangerschaft bezogen, würden also ÄrztInnen und Hebammen im engen Austausch darüber sein, wie sie in der Schwangerenvorsorge allgemein und für die einzelne Schwangeren am besten das Ziel erreichen. Gemeinsam würden sie überlegen, welche Kompetenzen von ÄrztInnen oder Hebammen eine Schwangere wann benötigt. Dieses Vorgehen würde immer wieder angepasst an die aktuelle Situation und die individuellen Bedürfnisse der betreuten Person. Die Mutterschaftsrichtlinien würden gemeinsam erarbeitet werden, um bereits hier die bestmögliche, intensive und individuelle Zusammenarbeit beider Berufsgruppen sicherzustellen.
Praktische Hürden:Mutterpass undMutterschafts-Richtlinien
Wie könnte die neue Zusammenarbeit praktisch aussehen? Zu Beginn einer Schwangerschaft erheben eine Hebamme oder eine Hebamme und eine ÄrztIn den Status der Schwangeren. Gemeinsam oder anhand eines Assessment-Instrumentes (einer strukturierten, umfassenden Erhebung des Jetzt-Zustandes) stellen sie fest und besprechen mit der Frau, wo die primäre Betreuung stattfinden sollte und wann die jeweils andere Berufsgruppe aufgesucht wird.
Im besten Falle haben die Betreuenden Zugriff auf alle Befunde. Der jetzige Mutterpass ist wenig geeignet. Denn die Kriterien zur Risikobestimmung sind zu unspezifisch, außerdem gibt es keinen Raum für hebammenspezifische Untersuchungen und Diagnosen. Beispiele in den USA dagegen zeigen, wie hilfreich es für die Schwangeren sein kann, dass alle an der Betreuung Beteiligten auf ihre Befunde und Fragestellungen zugreifen können. Eine Gesundheitskarte, auf die auch Hebammen zugreifen könnte, wäre ein hilfreicher Schritt.
Es sollte einen Austausch der Betreuenden geben, sobald sich die Situation der Schwangeren ändert. Frauen mit problemloser Schwangerschaft und wenigen Befürchtungen könnten verstärkt von der Hebamme betreut werden und erhielten insgesamt weniger Routine-Untersuchungen. Frauen mit höherem Betreuungsbedarf und vielen Befürchtungen könnten frühzeitig eingebunden werden in eine intensivere Versorgung durch beide Berufsgruppen, angepasst an den medizinischen und den psychosozialen Bedarf. Die heute schon knappen Ressourcen würden geschont durch eine Betreuung, die sich am individuellen Bedarf und Bedürfnis orientiert. Nicht mehr alle Frauen erhielten die enorm hohe Zahl an Untersuchungen, sondern gezielt diejenigen, die sie wirklich benötigen. Durch die intensive Zusammenarbeit käme auch und gerade den Schwangeren mit besonderen Bedürfnissen Hebammenhilfe zugute. Der Austausch und die Vernetzung der Berufsgruppen könnten bewirken, dass die Kompetenzen beider Berufsgruppen, der Hebammen und der ÄrztInnen, gezielt zum Wohle der Frauen eingesetzt werden.
Die jetzigen Mutterschaftsrichtlinien und der dazugehörige Mutterpass passen nicht zu einer derartigen kollaborativen Zusammenarbeit. Ein gutes Miteinander zum Wohle der Schwangeren kann nur umgesetzt werden, wenn vorab die Berufsgruppen gemeinsam Mutterschafts-Richtlinien erarbeiten und ein geeigneteres Assessment-Instrument als den Mutterpass entwickeln. Kollaborative Zusammenarbeit würde also die bestehende Herangehensweise weiterentwickeln und verbessern.
Gesetzliche Regeln:Aufgaben und Verantwortung erteilen
Warum sollten Schwangere nicht grundsätzlich zunächst nur von Hebammen betreut werden? Bisher haben wir dafür keine Tradition, und die Mehrzahl der Frauen wäre durch eine solche Veränderung wahrscheinlich verunsichert. Zusätzlich zeigt die Erfahrung zum Beispiel in den Niederlanden, dass in der Betreuung wieder beide Berufe mehr zusammenarbeiten sollen, um gemeinsam die Ergebnisse zu verbessern. Hebammen könnten in Deutschland deutlich mehr Verantwortung übernehmen. Die Vermittlung der erforderlichen Kompetenzen sollte fundiert in der Ausbildung verankert werden. In der gezielten, gut abgestimmten Zusammenarbeit liegen aber mehr Möglichkeiten als in der Betreuung durch nur eine Berufsgruppe.
Zurzeit ist eine derartige Form der Zusammenarbeit in Deutschland nicht durchführbar. Unsere Gesetze sind veraltet und ausschließlich für ein arztzentriertes Gesundheitswesen konzipiert. Gleichzeitig ist unser Gesundheitswesen stark hierarchisch, wodurch eine derart konstruktive Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsberufen häufig ganz verhindert wird. So ist im Sozialgesetzbuch V, § 92 festgelegt, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) den Auftrag hat, ausschließlich für ÄrztInnen, ZahnärztInnen, Krankenhäuser und PsychotherapeutInnen als Partner der Selbstverwaltung Regelungen und Richtlinien festzulegen. Auf die Schwangerenbetreuung bezogen bedeutet dies, dass der G-BA die ärztlichen Mutterschaftsrichtlinien erstellt. Hebammen dabei mit einzubeziehen, ist nicht möglich. Dass Hebammen aufgrund der EU-Richtlinie und in Deutschland durch den Hebammenhilfevertrag ebenfalls zur Durchführung der Schwangerenvorsorge berechtigt sind, wird somit nicht berücksichtigt. Dies führt zu einer gestörten Kooperation und zu den Konflikten, beispielsweise bei der Abrechnung der Vorsorgeuntersuchungen.
Mittlerweile sind neben den Hebammen jedoch auch die anderen Gesundheitsfachberufe in der Selbstverwaltung angekommen. In die Gesetzgebung zum G-BA fand das keinen Eingang. Dieser kann daher nicht das Potenzial der Zusammenarbeit der verschiedenen Gesundheitsberufe berücksichtigen. Neue Aufgabenverteilungen und Verantwortlichkeiten können zurzeit nicht entwickelt werden. Es ist also die Aufgabe des Gesetzgebers, über Änderungen im SGB V die Aufgaben und Strukturen des G-BA derart zu ändern, dass alle Gesundheitsberufe miteinander kollaborative Strukturen entwickeln können. So fordert der Deutsche Pflegerat schon seit langem, dass die professionell Pflegenden Sitz und Stimme im G-BA erhalten (Heilberufe/Das Pflegemagazin 2017).
Zwar gab es in Deutschland bereits Veröffentlichungen, in denen eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsberufen zum Wohle der PatientInnen und betreuten Frauen angemahnt wurde, so zum Beispiel das Gutachten »Kooperation und Verantwortung – Voraussetzung zielorientierter Gesundheitsversorgung« (Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 2007) und das »Memorandum Kooperation der Gesundheitsberufe« (Robert-Bosch-Stiftung 2011). Passiert ist aber bislang nichts, um die Vorschläge der WHO endlich auch in Deutschland umzusetzen, nach vielen Ländern weltweit, wie in Großbritannien (mit dem Centre for the Advancement of Interprofessional Education/CAIPE) sowie in der Schweiz, in den USA oder in Form von Netzwerken wie in Afrika (The Africa Interprofessional Education Network/AfrIPEN).
Gemeinsame Ausbildung: Akademisierung überfällig
Neben den gesetzlichen Änderungen gilt es, ein weiteres wesentliches Element in Deutschland einzuführen. Gute Zusammenarbeit will gelernt werden. Sie ergibt sich nicht von selbst und schon gar nicht, wenn die gesamte Tradition des hierarchischen Gesundheitswesens überwunden werden muss. Bereits in der Ausbildung, aber auch im Berufsleben, sollen die Gesundheitsfachkräfte mit-,
von- und übereinander lernen. Die »Interprofessionell Education« ermöglicht dieses gemeinsame Lernen. Hebammen und ÄrztInnen sollten bereits in der Ausbildung die Stärken und Kompetenzen der anderen Berufsgruppe kennen lernen. Sie müssen auch lernen, wie man eine enge kollaborative Zusammenarbeit entwickelt, wie man kommuniziert, zu Entscheidungen findet und welche Berufsgruppe in welcher Situation die Führung übernehmen sollte.
Auch hier liegt Deutschland weit zurück. Bereits die Tatsache, dass bei uns Hebammen noch an einer Berufsfachschule lernen, ist ein Hindernis. Je weiter die Lernenden voneinander entfernt sind, räumlich und institutionell, umso schwerer ist es, sie zum gemeinsamen Lernen zusammenzubringen. Für gelingendes interprofessionelles Lernen und Zusammenarbeiten muss es Konzepte geben.
Zunächst müssen räumliche Distanzen verringert werden, unsere Ausbildung muss zwingend an Hochschulen und Universitäten überführt werden. Dieses Ausbildungsniveau ist auch nötig, damit wir eine gemeinsame Sprache bekommen und die Chance besteht, die hierarchische Struktur zu verflachen. Mittlerweile sind wir in Europa das Schlusslicht – alle anderen Länder haben bereits die Hebammenausbildung akademisiert (Deutscher Bundestag 2018). In Deutschland jedoch wurde die Reform ein weiteres Mal gestoppt, um zu prüfen, ob eine Akademisierung wirklich notwendig ist. Hier zeigt sich, dass im Gesundheitswesen weiterhin fragmentiert in den alten Strukturen gedacht wird, anstatt die bestehenden Herausforderungen durch Reformen und Gesamtkonzepte endlich anzugehen.
Weiterhin sind Konzepte für eine curriculare Einbindung des interprofessionellen Lernens notwendig. Es reicht nicht, gemeinsam die Vorlesungen zu besuchen. Vielmehr sind verschiedene Module über die gesamte Ausbildungszeit wichtig und dabei sollte die Ausbildung der FachärztInnen einbezogen werden. Denn es geht nicht um gemeinsames Fachwissen, sondern um das Wissen über die Fähigkeiten der anderen Berufsangehörigen, um die gemeinsame Kommunikation und Entscheidungsfindung.
Das gemeinsame Lernen voneinander und übereinander könnte dazu führen, dass die Leitung geburtshilflicher Einrichtungen in Zukunft ebenfalls gemeinsam auf Augenhöhe erfolgt: Die leitende Hebamme ist führend bei allen physiologischen Prozessen, der leitende Arzt oder die Ärztin bei allen regelwidrigen Verläufen. In den Grauzonen wird gemeinsam die bestmögliche Betreuung geklärt.
Die wissenschaftlichen Kenntnisse, die Forschung an hebammenspezifischen Fragestellungen und die Möglichkeiten der beruflichen Weiterentwicklung sind wichtige Schritte, um Konzepte der Zusammenarbeit zu entwickeln. Wenn wir im Rahmen von kollaborativer Zusammenarbeit mehr Aufgaben in der Betreuung der Schwangeren übernehmen wollen, benötigen wir den akademischen Abschluss. Nicht nur bei der Akademisierung, auch bei der Verbesserung der Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe hinkt Deutschland und damit auch unser Berufsstand gute zehn Jahre der Entwicklung in Europa und der Welt hinterher. Wir diskutieren Verfahren, wie wir uns weniger stören – gefragt sind Lösungen, wie wir eng und vertrauensvoll miteinander arbeiten können, zum Besten der betreuten Frauen.
Lichtblick: Zwei Seiten im Koalitionsvertrag
Einen kleinen Lichtblick bietet der Koalitionsvertrag der aktuellen Regierungskoalition: Dort wird eine Neuordnung und Stärkung der Gesundheitsfachberufe angekündigt sowie eine neue Verteilung der Aufgaben und Verantwortlichkeiten zwischen den Berufsgruppen (Bundesregierung 2018, siehe Seiten 99-100). Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe befasst sich derzeit mit diesem Vorhaben. Noch ist unklar, ob das Konzept des interprofessionellen Lernens und der Collaborative Practice den handelnden PolitikerInnen überhaupt bekannt ist.
Wir sollten darauf pochen, dass Hebammen und ÄrztInnen durch die Akademisierung des Hebammenberufes und durch gesetzliche Maßnahmen endlich ermöglicht wird, wirkliche Partner in der gemeinsamen Betreuung der Frauen und Kinder zu werden. Wir brauchen den großen Wurf.
Literatur
Brenne S, Breckenkamp J, Razum O, David M, Borde T: Wie können Migrantinnen erreicht werden? In Deutschland und die Türkei – Band II. Forschen, Lehren und Zusammenarbeiten in Gesellschaft, Gesundheit und Bildung. Erol Esen und Theda Borde, 183-198. Ankara: Desen Ofset A. S. 2013
Bundesinstitut für Berufsbildung BIBB: Das Pflege- und Gesundheitspersonal wird knapper. BWP 1/2017 URN: urn:nbn:de:0035-bwp-17104-8
Deutscher Bundestag: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Grünen zur Akademisierung der Hebammenausbildung. Deutscher Bundestag 2018. 19. Wahlperiode, Drucksache 19/2709 vom 11.6.2018. http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/027/1902709.pdf (letzter Zugriff: 9.8.2018)
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