Scham schützt
Scham ist kein Gefühl, das nur einzelne Personen betrifft. Es ist tief im Menschen verankert. Scham ist omnipräsent. Bisher wurde weltweit keine Bevölkerung gefunden, in der Schamgefühle fehlen. Auch historisch finden sich keine Hinweise auf Epochen oder Kulturen, die frei von Scham waren. Das sollte uns nachdenklich machen. Wie kann ein Gefühl so große Verbreitung finden, wenn es so unangenehm ist?
So findet sich der für Scham typische Gesichtsausdruck in der ganzen Welt. Dazu gehört neben dem Abwenden des Blickes, dem Senken der Augenlider und einer Kopfdrehung zur Seite auch die besonders auffallende Rot- oder Dunkelfärbung der Haut, was im Übrigen dazu geführt hat, dass das Wort für Scham in vielen außereuropäischen Sprachen mit der Farbe Rot assoziiert wird. Diese transkulturelle Verbreitung macht eine ausschließlich soziokulturell bedingte Genese sehr unwahrscheinlich. Heute wird davon ausgegangen, dass Scham eine genetisch angelegte und biologisch verankerte Reaktionsweise des Menschen ist.
Scham ist komplex – und spezifisch menschlich
Manchmal wird allerdings eingewendet, es gebe doch schriftlose Primärkulturen wie Indianerstämme, bei denen sich Menschen ihrer Nacktheit und anderer natürlicher Verhaltensweisen nicht schämten. Das trifft jedoch nicht zu. So reagieren etwa Yanomami-Frauen im venezolanisch-brasilianischen Grenzgebiet, die lediglich eine dünne Schnur um die Körpermitte tragen, höchst verlegen, wenn sie aufgefordert werden, diese abzulegen. In diesem Fall kann eben auch die Schnur eine Grenze bezeichnen, die es zu beachten gilt. Derartige Kulturen kennen ein striktes Reglement der Blicke. Jemandem unverhohlen auf die Genitalien zu starren kann strengste Sanktionen nach sich ziehen.
Im Übrigen beschränkt sich die Scham in der menschlichen Entwicklung keineswegs auf die primären Geschlechtsorgane oder die erwachende Sexualität. Neben Körper- und Geschlechtsscham finden sich auch andere Formen, etwa die Scham, leistungsmäßig versagt zu haben (Kompetenzscham), die Scham, einen Fehler gemacht oder ein Unrecht begangen zu haben (moralische Scham), oder die Scham, nicht genügend selbstständig zu sein (Abhängigkeitsscham). In der kindlichen Entwicklung treten einzelne dieser Schamformen sogar deutlich vor der diskutierten Körperscham auf. So schämt sich zum Beispiel ein dreijähriges Kind, wenn es eingenässt hat, nicht für seinen Körper, sondern dass ihm die gelernte Kontrolle misslang, auf die es sonst stolz ist.
Allerdings tritt Scham bei Menschen nicht schon unmittelbar nach der Geburt auf, sondern erst im dritten und vierten Lebensjahr. Scham setzt voraus, dass ein Kind sich selbst erkennen und beurteilen kann. Sie bedarf mithin eines sogenannten »reflexiven Selbstbewusstseins«. Dies wiederum macht eine vorausgehende kognitive Entwicklung nötig, die wiederum nicht nur von der Hirnentwicklung, sondern auch von zwischenmenschlicher Zuwendung und Betreuung abhängig ist. Schon daraus kann geschlossen werden, dass Scham ein sehr komplexes und – wenigstens in ihrer ausgereiften Form – spezifisch menschliches Gefühl ist.
Während die aufgeführten Voraussetzungen eine Scham-Reaktion überhaupt erst möglich machen, wird vor allem von Erziehung und Soziokultur bestimmt, wofür sich ein Kind und später ein:e Erwachsene:r schämt. Es gilt also zwischen Schamfähigkeit einerseits und Schamauslösern andererseits zu unterscheiden. Auch wie mit Scham umgegangen wird, ist sehr von der einzelnen Person und ihren Lebensumständen abhängig.
»Türhüterin des Selbst«
Dabei kann im Laufe des Lebens auch die Art der Scham eine Veränderung durchmachen. So zeichnet sich eine Frühform von Scham hauptsächlich dadurch aus, dass sich jemand vor anderen schämt. Diese soziale Scham bedingt gleichsam Mitwissende oder Schamzeugen. Sie tritt zunächst im Vorschulalter auf, begleitet aber viele Menschen durch das ganze Leben. Ab dem Schulalter finden sich nämlich auch persönlichere Scham-Formen, die keine Beobachtende oder Mitwissende nötig machen. Jemand schämt sich dann allein vor sich selbst. Ich nenne diese Form persönliche oder personale Scham.
Scham ist nicht nur ein soziales Gefühl. Scham ist auch eine »Türhüterin des Selbst«. Sogar soziale Scham dient nicht nur der sozialen Anpassung. Sie grenzt immer auch ab. Sie bewahrt als kritisches Selbstgefühl davor, Opfer der anderen zu sein. Deshalb sprechen wir zu Recht von Schamgrenzen, die gleichsam das »Selbst« bewachen. Auch wenn soziale Scham uns erfahren lässt, wie abhängig wir in unserer Selbstbewertung von anderen sind, bewahrt sie uns auch vor völliger Selbstaufgabe. Wirft sie uns doch auf uns selbst zurück und lässt uns intensiv spüren und grenzt uns von anderen ab.
Der französische Psychiater und Psychotherapeut Serge Tisseron ist der Auffassung, jemand brauche gerade in Identitätskrisen Scham, um »dank der Scham sein Selbst als psychische Hülle zurückzugewinnen«. Sie zeige ihm zwar in Beschämungssituationen die Abhängigkeit von anderen auf, aber sie bewahre ihn gleichzeitig »vor der völligen Unterwerfung unter einen andern« (Tisseron 2000).
Aus dieser Perspektive hat Scham eine Schutzfunktion – und zwar nicht nur als eine Art Maske, hinter der sich jemand verstecken kann, sondern auch als Hilfe, sich bei drohender Selbstaufgabe oder Dissoziation weiter als Ganzes zu spüren und insofern »bei sich« zu bleiben. Wie wichtig diese oft übersehene Schutzfunktion sein kann, zeigt sich besonders deutlich, wenn Scham mit dem Kränkungs- Empfinden beziehungsweise der narzisstischen Kränkung verglichen wird. Beides kann durch Beschämung oder Kränkung ausgelöst werden. Allerdings setzt Scham in der Regel voraus, dass jemand unter dem Eindruck steht, dass die Beschämung nicht ganz aus der Luft gegriffen ist und er eine Teilverantwortung für das Geschehen hat – auch wenn er die Beschämung keineswegs billigt.
Demgegenüber fühlt sich der gekränkte Mensch hauptsächlich ungerecht behandelt. Es sind demnach nicht genau die gleichen Ausgangssituationen, die zur Scham- oder Kränkungsreaktion führen. Dennoch ist der Unterschied von Gekränktheit und Schamgefühl verblüffend.
Der gekränkte Mensch
Scham brennt. Wer sich schämt, spürt sich intensiv – und zwar gerade dann, wenn seine Selbstachtung einzubrechen droht. Er ringt mit sich selbst. Er schämt sich seines eigenen Handelns oder einer ihm zugeschriebenen Eigenschaft. Er zieht sich still zurück und sucht sich zu verstecken. Dieser vorübergehende Rückzug dient unter anderem dazu, sich wieder zu sammeln. Wer sich schämt, reflektiert sich selbst kritisch, auch weil er eigene Werte oder seine Würde in Frage gestellt sieht. Er fragt sich oft, was er selbst dazu beitragen könnte, seine (Selbst-)Achtung zu bewahren oder wiederzugewinnen.
Demgegenüber ist der gekränkte Mensch tief verletzt. Er bleibt auf das Unrecht fixiert, das ihm widerfahren ist. Oft reagiert er mit Wut und häufig mit Rachefantasien. Wer tief oder narzisstisch verletzt ist, kann schwer an sich halten. Er ist meist außer sich, auch im metaphorischen Sinn. Er ist erregt, errötet aber nicht.
Demgegenüber ist Scham selbst- und beziehungsorientiert. Wer sich schämt, sucht zwischenmenschlich meist nach Ausgleich und Harmonie. Deshalb kann sich jemand auch für andere schämen. Im Unterschied dazu löst eine narzisstische Kränkung kein Mitgefühl aus. Damit geht auch einher, dass Scham, solange sie einen Menschen nicht überflutet, die persönliche Entwicklung eines Menschen fördern kann, was dem Empfinden von Gekränktheit und insbesondere der sich daraus allenfalls entwickelnden Verbitterung abgeht.
Abwehr von Scham
Die Bedeutung der Scham wird auch deutlich, wenn man die Folgen ihres Fehlens bedenkt. So hat die Abwehr oder der Verlust von Scham viel häufiger ernsthafte psychische Beeinträchtigungen zur Folge als das Schamgefühl selbst. Beispielsweise kann das soziale Verhalten bei akuten Psychosen oder schweren Demenzen durch unterschiedlich bedingten Schamverlust beeinträchtigt werden.
Psychologisch leichter nachvollziehbar sind die ungünstigen Folgen einer Schamabwehr bei Substanzabhängigkeiten. Wenn jemand seine Schamgefühle, die zum Beispiel nach Trinkexzessen oder alkoholbedingten Kontrollverlusten auftreten, durch erneute Substanz-Einnahme immer wieder unterdrückt, vergrößert sich das Risiko einer Abhängigkeit. Scham steht dann als Motivation für die Bearbeitung und Überwindung der Problematik nicht mehr zur Verfügung. Gerade das Beispiel der Substanzabhängigkeit macht deutlich, dass die Abwehr von Scham das größere Problem darstellt als das eigentliche Schamerleben.
Vielleicht hat der Dichter Antoine de Saint-Exupéry Ähnliches im Sinn gehabt, als er in seinem Meisterwerk «Le Petit Prince« den Teufelskreis zwischen Beschämung und Schamabwehr in poetische Worte fasste. Auf seiner Reise durch das Weltall trifft der kleine Prinz auf einen Trinker: »›Was machst du da?‹, fragte er den Säufer, den er stumm vor einer Reihe leerer und einer Reihe voller Flaschen sitzend antraf. ›Ich trinke‹, antwortete der Säufer mit düsterer Miene. ›Warum trinkst du?‹, fragte ihn der kleine Prinz. ›Um zu vergessen‹, antwortete der Säufer. ›Um was zu vergessen?‹, erkundigte sich der kleine Prinz, der ihn schon bedauerte. ›Um zu vergessen, dass ich mich schäme‹, gestand der Säufer und senkte den Kopf. ›Weshalb schämst du dich?‹, fragte der kleine Prinz, der den Wunsch hatte, ihm zu helfen. ›Weil ich saufe!‹, schloss der Säufer und hüllte sich endgültig in Schweigen.«
Negative Folgen der Schamabwehr lassen sich auch bei narzisstischen Problemfeldern beobachten. Um sich nicht in Frage zu stellen, wird Scham oft mit Fremdaggression abgewehrt. Wut und Zorn dienen dann dazu, die höchst unangenehm erlebte Scham zu verdecken oder gar nicht erst aufkommen zu lassen. Wenn in der Psychologie mitunter von einer »Scham-Wut-Spirale« die Rede ist (als ob Scham mit Wut einherginge), so ist genauer von einer »Schamabwehr-Wut-Spirale « zu reden, denn Scham ist bekanntlich selbstkritisch und hemmt Aggressionen gegen andere.
Der Schamforscher Michael Lewis sieht das Problem der abgewehrten oder uneingestandenen Scham vor allem darin, dass sie nicht mehr als Hinweis zur Verfügung steht, um eine Situation zu klären. Tatsächlich belegen viele Untersuchungen, dass vor allem das Verdrängen von Scham zu persönlichen und sozialen Schwierigkeiten führt. Was anfänglich entlastend wirkt, kann nachträglich zur Belastung werden oder mindestens einen Lernprozess behindern.
Ein Sensor, der Alarm schlägt
Uneingestandene oder abgewehrte Scham kann aber auch deshalb zum Problem werden, weil damit ein Warnsignal verloren geht. Noch allzu oft wird das Schamgefühl als Ursache einer Problematik statt als Hinweis auf ein bestehendes Problem gesehen. Man verwechselt mithin Ursache und Wirkung. Denn Scham, so unangenehm sie ist, plagt einen Menschen nicht böswillig, sondern um ihn aufzuwecken. Sie ist ein Sensor, der Alarm schlägt, weil eine ganz besondere Gefahr droht.
Scham weist insbesondere auf eine Gefährdung der eigenen Achtung und Identität hin. Darin unterscheidet sich das Schamgefühl von anderen unangenehmen Gefühlen wie Angst, Traurigkeit oder Ekel. Diese stellen nicht uns selbst in Frage, sondern machen uns auf äußere oder körperliche Gefahren aufmerksam.
Im Gegensatz zu diesen sogenannten Primärgefühlen macht uns das »Selbstgefühl« Scham darauf aufmerksam, dass mit uns selbst, mit unserer Psyche, etwas nicht in Ordnung ist. Wir schämen uns zum Beispiel, wenn wir wortbrüchig geworden sind oder auf andere Weise eine uns wichtige Wertvorstellung gebrochen haben – beispielsweise, wenn wir unaufrichtig, feige, inkompetent oder nicht autonom gehandelt haben. Und wir schämen uns auch, wenn Vorwürfe durch Mitmenschen, die wir achten und von denen wir geachtet werden wollen, einen sensiblen Punkt treffen, der unseren Selbstwert in Frage stellt. Und es versteht sich von selbst, dass wir die Scham, die uns alarmiert und auf diesen Verlust an (Selbst-)Achtung hinweist, von allen Gefühlen am wenigsten schätzen.
Wertvorstellungen und Bewertungen
Nun können wir uns aber auch nach problematischen oder falschen Wertvorstellungen richten, die wir von der Familie oder der Soziokultur übernommen haben. Ich denke etwa an ideologische Bewertungen wie arm, beeinträchtigt, psychisch krank oder homosexuell zu sein, sei eine Schande. Sind wir aber im Leben selbst von einer solchen Problematik betroffen, fühlen wir uns erniedrigt und gezeichnet. Aus Scham verbergen wir, was uns plagt. Erst wenn wir uns mit dem Schamgefühl auseinandersetzen, kann uns auch der Zusammenhang unserer Problematik deutlich werden. Was uns psychisch leiden macht, ist die Wertung unserer persönlichen Eigenart oder Erkrankung. Dann erweist sich nicht die Scham als falsch, wie mitunter postuliert wird, sondern unsere übernommene Wertvorstellung. Sie gilt es in einem oft mühsamen Prozess zu verändern.
Dabei mögen wir auch erfahren, dass das besonders Fatale und Destruktive sozialer Erniedrigungen darin liegt, dass unsere menschliche Abhängigkeit von der Mitwelt dazu missbraucht wird, uns zur Anpassung zu zwingen. Umso wichtiger können tolerante Menschen, Gleichgesinnte und Gruppen sein, die uns darin unterstützen, sozialem Druck standzuhalten und die sozial bedingte Scham zu relativieren. Das gilt auch im Falle schwangerer Frauen und Mütter von Säuglingen, die nicht selten unter sozialen Druck kommen.
So sind auch Schwangerschaft und die Zeit danach nicht frei von Peinlichkeiten. Besonders starke Scham lösen ungewollte Schwangerschaften aus, mit der Folge, dass betroffene Frauen sie zunächst zu verbergen suchen. Aber auch erwünschte Schwangerschaften und nachgeburtliche Schwierigkeiten lösen manchmal Scham aus. Während der Geburt ist für manche Frauen ein unbeherrschbarer Stuhlgang peinlich. Auch besonders häufiges oder sehr langes Stillen kann auf Kritik stoßen und zu schamhaften Reaktionen führen. Zudem ist die körperliche Veränderung während und nach der Schwangerschaft nicht nur Grund zur Freude, sondern löst öfter auch Scham aus. Ganz abgesehen davon, dass viele Ratschläge an Frauen während der Schwangerschaft und nach der Geburt der Kinder wie Schläge wirken und nicht nur ärgern, sondern als demütigendes Zurechtweisen auch Scham bewirken können. Hier leisten Hebammen in psychischer Hinsicht sehr viel Gutes, wenn sie auf beschämte Frauen einfühlsam eingehen, die Scham auslösende Erniedrigung und Stigmatisierung als solche benennen und die betroffenen Frauen dabei unterstützen, sie zu überwinden. Dabei muss nicht die Scham schlecht gemacht werden, sondern was dazu geführt hat.
Die Norm tabuisiert
Entscheidend ist, wofür man sich schämt. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Sie prägte schon die Hauptströmungen der griechischen Philosophie und auch das frühe Christentum. Bei Demophilos, einem griechischen Rhetoriker des 4. Jahrhunderts vor Christus, findet sich der Satz: »Wo wir uns nicht schämen sollten, da schämen wir uns, und wo wir uns schämen sollten, da schämen wir uns nicht.«
In der Neuzeit ist die Einschätzung von Scham großen Schwankungen unterworfen, auch weil die Lebensbedingungen in den letzten Jahrhunderten sehr unterschiedlich waren. Zweifellos hat der Zivilisationsprozess gewisse Schamformen akzentuiert, wie der Soziologe und Historiker Norbert Elias behauptet. Wenn es im Mittelalter – selbst am Hofe von Königen und Kaisern – an der Tagesordnung war, im Beisein von anderen Menschen Wasser zu lassen, die Hosen herunterzulassen und zu rülpsen, sind solche Verhaltensweisen heute verpönt. Gleichzeitig lösen aber andere Verhaltensweisen wie zum Beispiel körperliche Entblößung weniger Scham aus.
Die Berliner Philosophin Hilge Landweer hat wohl Recht, wenn sie davon ausgeht, dass das sich verbergende Gefühl der Scham nicht unbedingt abgenommen hat, sondern dass heute Scham durch anderes ausgelöst wird als früher. Was Scham erzeugt und wie mit Scham umgegangen wird, hat sich gewandelt. Auch die Schamabwehr dürfte sich verstärkt haben — nicht zuletzt durch die moderne Abwertung von Scham. So wird wenig zur Kenntnis genommen, dass die Moderne zwar eine Enttabuisierung beziehungsweise »Entschämung« sexueller Praktiken und erotischer Reize gefördert, aber gleichzeitig Menschen mit aus der Norm fallenden, adipösen und alternden Körpern tabuisiert und beschämt hat. Schönheitschirurg:innen haben alle Hände voll zu tun, um allfällige körperliche Mängel nicht nur zu beseitigen, sondern auch, um jugendlich geprägte Gesichts- und Körperformen zu schaffen.
Auch bei anderen sozialen Schamformen haben sich die Ursachen verschoben. So werden heute Macht, Besitz und Erfolg ungenierter als noch vor ein paar Jahrzehnten zur Schau gestellt. Fake-News sind zu einem modernen Begriff geworden, weil es offenbar an Scham fehlt, sich mit Unwahrheiten Vorteile zu verschaffen. Es ist schon alltäglich, dass für Produkte und Parteien mit schamlosen Übertreibungen oder Falschdarstellungen geworben wird.
Gleichzeitig macht aber eine Bewegung der »politischen Korrektheit« von sich reden. Sie will insbesondere Benachteiligte und Minderheiten vor Abwertung schützen. Es soll eine Art »gesellschaftliche Entschämung« stattfinden, indem niemand mehr beschämend ausgegrenzt oder psychisch verletzt wird. Auch wenn soziale Schamgefühle in dieser Bewegung selten direkt angesprochen werden und mehr von psychischen Verletzungen und Kränkungen die Rede ist, spielen Schamgefühle hintergründig mit. Angesichts tiefer Verletzungen werden sie aber noch kaum angenommen.
Gesunde Scham
Scham ist zwar nicht gut an sich. Sie kann in extremis auch überwältigen und hilflos machen. Im Normalfall macht sie aber auf Wichtiges aufmerksam. Angesichts der heutigen psychosozialen Herausforderungen ist es gefährlich, sie zum Schweigen zu bringen. Ohne Scham ist es einfacher, andere Menschen zu beschämen. Es ist auch leichter, dem eigenen Narzissmus zu frönen. Auf diese Weise kann sich eine »Beschämungskultur« entwickeln, die Konkurrenzdruck mit gegenseitiger Erniedrigung und Kränkung koppelt. Erste empirische Arbeiten belegen, dass Menschen, die sich wegen eines Fehlers schämen, bei zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen kooperativer sind als Menschen ohne Scham. Auch sind sich schämende Menschen stärker motiviert, sich selbst zu verbessern. Erste Studien belegen, dass sich maßvoll schämende Menschen ein größeres Entwicklungspotenzial haben als beispielsweise narzisstisch gekränkte Menschen (Hell 2021).
Eine Patientin in meiner psychiatrischen Beratung, die schwere narzisstische Verletzungen erfahren und Scham früher abgewehrt hat, drückt eine ähnliche Erfahrung so aus: Sich ihrer Scham bewusst zu werden, sei zwar höchst unangenehm, doch werde sie dadurch nicht erniedrigt. »Ich fühle mich, wenn ich mich schäme, bedroht, doch nehme ich mich irgendwie ernst.«
Der schweizerisch-amerikanische Psychoanalytiker Leon Wurmser, der wesentlich zur Bedeutung von Scham in der Psychotherapie beigetragen hat, sagt es so: Scham schützt die menschliche Würde. Denn sie zeigt an, dass die Selbstachtung und die eigene Würde in Gefahr sind. Oder, wie man auch sagen kann: »Nur wer sich achtet, kann sich schämen«.
Hinweis
Der Beitrag wurde auf der Grundlage des Buches »Lob der Scham – Nur wer sich achtet, kann sich schämen« (Psychosozial-Verlag 2021) geschrieben.