Leseprobe: DHZ 11/2023
Vaginales Mikrobiom – Teil 2

Natürliche Impfung beim »Vaginal Seeding«?

Über den Schutz der Schwangerschaft hinaus könnte das vaginale Mikrobiom bei vaginal geborenen Kindern die physiologische Entwicklung der Darmflora und des Immunsystems günstig beeinflussen. Die Studienlage ist noch nicht evident, aber positive Signale liegen vor. Deshalb kann das vaginale Mikrobiom der Mutter nach einer Sectio durch ein Vaginal-Seeding auf das Kind übertragen werden. PD Dr. med. habil Dominique Finas,
  • »Bei einer Geburt durch Sectio sind die Mikrobiome, die auf das Kind übertragen werden, primär die der mütterlichen Haut und des im Operationssaal vorhandenen Keimspektrums.«

Ein ungeborenes Kind hat noch kein eigenes Mikrobiom. Alle seine Körperkompartimente sind keimfrei. Es bekommt bei der Geburt eine erste Keimausstattung für die Bildung eines eigenen Mikrobioms. Die Quellen für das Mikrobiom können unterschiedlich sein. Bezogen auf Gesundheit und Krankheit ist das Mikrobiom von entscheidender Bedeutung. Es hat einen Einfluss auf die Aufnahme von Nährstoffen aus der Nahrung, die Immunprogrammierung und den Schutz gegen Pathogene (Dethlefsen et al., 2007).

Bei einer vaginalen Geburt erhält das Kind während des Durchtritts durch die Geburtswege der Mutter eine erste Impfung mit Keimen. Diese vermehren sich auf dem Kind und in ihm. Sie werden in ihrer Zusammensetzung mit der Zeit durch weitere Keim-Quellen modifiziert. Dabei ist das Umfeld des Kindes entscheidend und womit es in Kontakt kommt. Beim Kuscheln und Stillen werden die Mikrobiome der Haut und der Muttermilch übertragen. Beim Küssen des Kindes erhält es Keime des Mikrobioms aus der Mundhöhle der küssenden Person.

 

Herkunft des Mikrobioms je nach Geburtsmodus

 

Bei einer Geburt durch Sectio sind die Mikrobiome, die auf das Kind übertragen werden, primär die der mütterlichen Haut und des im Operationssaal vorhandenen Keimspektrums. Dann beginnt der gleiche Ausbreitungs- und Modifikationsprozess, an dem die Mikrobiome verschiedener Personen und der Umgebungen des Kindes beteiligt sind.

In einer kleinen Studie wurde der prospektive Ursprung des kindlichen Mikrobioms nach vaginaler Geburt und Sectio untersucht. Es zeigte sich, dass bei beiden Geburtsmodi in 58,5 % das Mikrobiom von der Mutter stammt. Bei den vaginal geborenen Kindern konnte primär das Darmmikrobiom der Mutter im kindlichen Darm nachgewiesen werden. Bei den Kaiserschnittkindern überwog das mütterliche Hautmikrobiom und das der Muttermilch. Beide Gruppen hatten eine vollständige, jedoch unterschiedliche Ausstattung ihres Mikrobioms. Da nur ein Zeitraum von 30 Tagen nach Geburt untersucht wurde, konnte keine Aussage über die Wertigkeit dieses Befundes gemacht werden (Bogaert et al., 2023).

Für die Entwicklung des kindlichen Mikrobioms nach Sectio scheinen Hautkontakt und Stillen wichtige Einflussfaktoren zu sein. Die Studie zeigt, dass der kindliche Darm in den ersten beiden Lebenswochen mit seinem frühen Mikrobiom besiedelt wird. Dadurch findet in dieser Zeit eine wichtige Prägung des Immunsystems statt.

In den ersten 100 Tagen nach der Geburt reift das Immunsystem in Abhängigkeit von der Entwicklung des kindlichen Darmmikrobioms am stärksten. Dieser Zeitraum der frühen Prägung wird als Window of Opportunity bezeichnet. Er hat einen langfristigen Einfluss auf das Immunsystem (Hornef & Torow, 2020). Die Ausstattung des kindlichen Darmmikrobioms ist daher ein wichtiger Faktor zum Beispiel für eine Impfreaktion.

Nach einer vaginalen Geburt ist die kindliche Antikörperreaktion durch eine Impfung höher als nach einer Sectio. Dies korreliert mit einem dem Geburtsmodus entsprechenden kindlichen Darmmikrobiom. Das heißt, dass nach einer primären Besiedlung mit VMB die Impfantwort besser ist als nach primärer Besiedlung mit mütterlichen Hautkeimen. Bei einer Pneumokokken-Impfung nach vaginaler Geburt korreliert der höhere Gehalt an Bifidobakterien und E. coli im kindlichen Darm mit einem höheren IgG-Antikörperspiegel. Das gilt auch für E. coli bei Meningokokken-Impfung (de Koff et al., 2022).

Welchen Einfluss Pilze und Viren auf das Immunsystem haben, wurde in der zitierten Studie nicht untersucht. Das teilweise oder vollständige Ersetzen des Stillens durch Formula-Nahrung und die Gabe von Antibiotika können das intestinale Mikrobiom von Säuglingen und damit auch die Kompetenzentwicklung ihres Immunsystems stören (Oosterloo et al., 2019; Zeissig & Blumberg, 2014). Das bereits etablierte kindliche Mikrobiom wird umgestaltet und erholt sich nur langsam oder langfristig gar nicht (Bokulich et al. 2016).

 

Vaginal Seeding

 

Epidemiologische Studien haben ergeben, dass durch Sectio geborene Kinder scheinbar ein erhöhtes Risiko für bestimmte Erkrankungen haben: Adipositas, Diabetes mellitus Typ 1, Asthma, Allergien, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (Bokulich et al., 2016; Sevelsted et al., 2015). Die epidemiologischen Studien bieten aber kein hohes Evidenzlevel. Die scheinbar offensichtliche Kausalität kann meist nicht durch ein Ursache-Wirkungs-Prinzip belegt werden. Daher müssen diese Daten zurückhaltend interpretiert werden. Es ist also derzeit unklar, ob der Geburtsmodus tatsächlich für spätere Erkrankungen codiert. Andere Faktoren könnten ebenfalls beteiligt sein.

Eine häufig angewendete Erklärung für das bessere Outcome der Kinder nach vaginaler Geburt ist die Übertragung des mütterlichen vaginalen Mikrobioms beim Durchtritt durch die Geburtswege. Allerdings können auch Mütter ein gestörtes Mikrobiom haben. Dieses könnte bei ihnen bereits Erkrankungen ausgelöst oder manifestiert haben, beispielsweise chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Diabetes oder Adipositas. Die Übertragung dieser Mikrobiome bei der vaginalen Geburt könnte also sogar schädlich für das Kind sein. Aussagen mit hoher Evidenz lassen sich aufgrund der sehr dünnen Studienlage derzeit nicht treffen und sind rein spekulativ. Es ist jedenfalls nicht klar, was genau die Wirkung des VBM beim Kind ist. Möglicherweise ist diese vorteilhaft. Daher wurde die Methode des Vaginal Seeding entwickelt, um Kindern nach Geburt durch Sectio das VBM zu übertragen, in der Hoffnung auf einen damit verbundenen Nutzen für das Neugeborene.

Das Vaginal Seeding (engl. Aussaat des vaginalen Mikrobioms) bei Geburt durch Sectio wird in den letzten Jahren in Europa zunehmend angewendet. In den USA, Großbritannien und Australien ist es bereits in vielen Geburtshilfen verbreitet. In Deutschland ist diese Praxis umstritten. Eine wichtige Bedingung für ein Vaginal Seeding ist der Ausschluss einer vaginalen Infektion, zum Beispiel eine Dysbiose durch aerobe Vaginitis (AV), bakterielle Vaginose (BV) oder anderes. Dies kann klinisch erfolgen, zum Beispiel über die Beschaffenheit des vaginalen Fluors, dessen Geruch, einen Abstrich mit mikroskopischer Beurteilung und durch einen mikrobiologischen Abstrich erfolgen (Dominguez-Bello et al., 2016).

Methode

Bei einer geplanten primären Sectio oder einer sekundären Sectio ohne relevanten Geburtsfortschritt wird vor Geburt eine feuchte sterile Tamponade oder Kompresse in die Vagina der Mutter eingelegt. Das Material soll als Träger für das Mikrobiom vaginale Sekrete aufnehmen. Der Träger verbleibt dort für etwa 30–60 Minuten. Vor Beginn der Operation wird der Träger steril asserviert. Nach der Geburt wird das VMB mit dem Träger auf der Körper- und Gesichtshaut des Neugeborenen und oral verteilt (Dominguez-Bello et al., 2016).

Dieses Vorgehen soll die bei der vaginalen Geburt physiologisch auf das Neugeborene übergehenden vaginalen Sekrete transportieren, obwohl das Neugeborene keinen vaginalen Durchtritt hatte. Das VMB soll sich so auf der Haut, den Schleimhäuten und im Darm des Kindes verteilen und ansiedeln. Die Einlage, Entnahme und Verwendung des Trägers aus der Vagina sollte gut dokumentiert werden, da ein versehentlich vaginal verbliebener Träger gravierende gesundheitliche Folgen für die Frau haben kann (Toxic Shock Syndrome, Sepsis).

Rationale Begründung

Das VMB gilt bei der vaginalen Geburt als ein wesentlicher Faktor in der Erstausstattung des Kindes mit einem Mikrobiom, dass es in der Folge selbst weiterentwickelt und modifiziert. Besonders wichtig ist dies wahrscheinlich bei der Besiedlung des Kindlichen Darmes. Etwa zwei Jahre dauert es, bis das kindliche Mikrobiom stabil ist und allmählich dem Erwachsener entspricht (Koenig et al., 2011).

Es ist nicht unerheblich, dass das Mikrobiom des mütterlichen Darmes eine andere Zusammensetzung mit einer höheren Varianz der Keime hat. Wenn der Geburtsprozess noch nicht zu Wehen mit einem Tiefertreten des Kindes geführt hat, ist die intestinale Keimzahl im Bereich der Vagina zum Zeitpunkt der Einlage des Trägers noch nicht erhöht, da noch keine Darmbewegung oder -entleerung eingetreten ist, wie es bei einer physiologischen Geburt der Fall ist. Es handelt sich beim Vaginal Seeding also um die Übertragung des zum Geburtszeitpunkt typischen VMB, möglicherweise ohne höhere Anteile des Mikrobioms des Darmes, und nicht um ein VMB einer physiologischen Geburt. Allerdings konnte kürzlich durch genetische Mikrobiomuntersuchung (16S rRNA-Gen-Sequenzanalyse) gezeigt werden, dass sich die mütterlichen Mikrobiome von Rektum und Vagina im letzten Schwangerschaftstrimester in ihrer Zusammensetzung einander angleichen (Shin et al., 2023). Dabei reduziert sich die Vielfalt an Lactobacillus spp. in beiden Mikrobiomen. Gleichzeitig erhöhte sich die vaginale Vielfalt durch Bacteroides (Prevotella) und Firmicutes (Streptococcus, Anaerococcus, Peptoniphilus, Dialister). Das VMB näherte sich dem des Rektums an, was die Diversität der Ausstattung der intestinalen Besiedlung des kindlichen Darmes begünstigt (Shin et al., 2023). Diese Veränderung hielt bis zum zweiten Monat post partum an. Dies deutet darauf hin, dass das beim Vaginal Seeding übertragene Mikrobiom auch ohne Geburtsarbeit doch dem einer vaginalen Geburt ähnlich ist.

Anwendung

Bei einer sekundären Sectio mit Geburtsfortschritt könnte das Vaginal Seeding auch mit einem geringeren zeitlichen Vorlauf angewendet werden. Ob bei einer verkürzten Einlegezeit des Trägers der gewünschte Effekt erzielt wird, kann angezweifelt werden, da die Keimzahl pro Träger je nach Sekretmenge und Keimkonzentration zu gering sein könnte. Ob im Falle einer sekundären Sectio in Abhängigkeit des Geburtsfortschrittes mit Tiefertreten des Kindes die Möglichkeit für die Übertragung des mütterlichen Darmmikrobioms erhöht ist und welche Wertigkeit dies hätte, ist unklar (Shin et al., 2023).

Eine Notsectio schließt ein Vaginal Seeding mit dem genannten Prozedere aufgrund der Eile des Eingriffes aus. Zu bedenken ist außerdem, dass keine Verzögerung der Versorgung eines deprimierten Kindes durch das Vaginal Seeding in Kauf genommen werden soll. Auch bei einer Triple I Situation wie Infektion, Inflammation oder beides soll von dem Prozedere Abstand genommen werden, um nicht das Risiko der Verschlimmerung der kindlichen Situation einzugehen. Ein kritischer kindlicher Zustand oder eine unklare Infektionslage sind Kontraindikationen für ein Vaginal Seeding, um eine weitere Zustandsverschlechterung sicher zu vermeiden (Dominguez-Bello et al., 2016).

Das Vaginal Seeding stellt eine bewusste Handlung am Neugeborenen mit der Übertragung potenziell infektiöser Keime dar. Bei einer physiologischen Geburt tritt dieser Vorgang ebenso physiologisch und nicht absichtsvoll ein. Darin unterscheiden sich die beiden Situationen aus medico-legaler Sicht. Daher erfordert die Durchführung eines Vaginal Seeding auf Wunsch der Mutter/der Eltern eine besondere Umsicht mit Aufklärung und Dokumentation. Ein eigenverantwortliches Vaginal Seeding kann unbemerkt durch die Mutter erfolgen. Teilt sie dies dem geburtshilflichen Team nicht mit, trägt sie die Verantwortung selbst.

 

Fazit

 

Die Beeinflussung des Geburtsmodus könnte einen Einfluss auf die kindliche Gesundheit haben. Daher sollte die Möglichkeit einer vaginalen Geburt stets geprüft und die Indikation zur Geburt per Sectio gut abgewogen sein. Wenn eine Sectio nicht zu vermeiden ist, kann im Vorfeld mit den Eltern besprochen werden, ob ein Vaginal Seeding gewünscht wird. Eine ausführliche Aufklärung über mögliche Risiken und Vorteile für das Kind soll durchgeführt und gut dokumentiert werden. Dabei ist der hypothetische Nutzen des Vaginal Seeding für das Kind klar zu benennen, denn die Datenlage ist nicht gut. Die Beobachtung eines schlechteren gesundheitlichen Outcomes von Kindern nach Sectio ist relevant, beruht derzeit jedoch vorwiegend auf epidemiologischen Studien und deren Evidenzlevel ist eher gering.

Ob ein dauerhaft positiver Einfluss auf das kindliche Mikrobiom durch ein Vaginal Seeding erreicht werden kann und worin dieser bestehen würde, kann noch nicht beantwortet werden. Von einem positiven kurzzeitigen Effekt auf die kindliche Gesundheit wird bereits ausgegangen, wie Untersuchungen zum Immunsystem zeigen. Die frühe peripartale Erstausstattung mit dem mütterlichen vaginalen Mikrobiom scheint weitere positive Einflüsse zu haben, zum Beispiel für die Ernährung. Möglicherweise wird mit dem VMB aber auch ein pathologisierendes Mikrobiom übertragen, das bei der Mutter bereits Erkrankungen induziert haben kann. Auch diese Aspekte sind derzeit durch Studien nicht zu belegen.

Der Ausschluss einer vaginalen Infektion anhand klinischer, mikrobiologischer und gegebenenfalls laborchemischer Parameter vor Impfen des Kindes mit dem VMB wird empfohlen. Dies sollte ebenfalls gut dokumentiert werden. Ein peripartaler maternaler Einsatz von Antibiotika vor oder während der Entnahme des VMB mit dem Träger oder beim Kind könnte dem möglichen Nutzen eines Vaginal Seeding entgegenstehen. Die Erstversorgung eines postpartal deprimierten Kindes soll nicht durch ein Vaginal Seeding verzögert oder erschwert und das Kind dadurch gesundheitlich gefährdet werden.

Ein Anspruch der Mutter auf die Durchführung eines Vaginal Seeding ist aus der derzeitigen Datenlage nicht abzuleiten. Daher muss es vom geburtshilflichen Team auch nicht angeboten werden. Unter Beachtung der genannten Einschränkungen mit guter Aufklärung und Dokumentation ist das Verfahren unter der Annahme eines Nutzens für das Kind jedoch vertretbar. Auf den positiven Nutzen des Stillens – ungeachtet eines Vaginal Seeding bei physiologischer Geburt beziehungsweise Sectio – soll im Hinblick auf die Entwicklung des kindlichen Mikrobioms hingewiesen werden.

 

Rubrik: Geburt | DHZ 11/2023

Hinweis

Dieser Beitrag baut inhaltlich auf dem ersten Teil auf, der unter dem Titel »Vaginales Mikrobiom: Schutzschirm für die Schwangerschaft« in der Oktoberausgabe der DHZ erschienen ist.