Vom Nebeneinander zum Miteinander
Eine reibungslose Zusammenarbeit der Professionen wird hierzulande (HRK 2017) wie auch international (WHO 2010) als ein wirksames Mittel angesehen, um aktuellen und zukünftigen Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung zu begegnen. So soll die Qualität der Versorgung gesteigert werden. Dies kann beispielsweise erreicht werden, indem die Beteiligten durch eine verbesserte Kommunikation Behandlungsfehler vermeiden (WHO 2013; Reeves et al. 2016). Das Wissen um die konkreten Rollen und Verantwortungsbereiche der eigenen und der anderen Professionen soll außerdem dabei helfen, Hand in Hand als Team zu agieren (Rogers et al. 2017).
Darüber hinaus kann interprofessionelle Zusammenarbeit aber auch das Innovationspotenzial in der Gesundheitsversorgung erhöhen (Houldin 2004). Interprofessionelle Forschungsansätze sind multiperspektivistisch, beleuchten Behandlungsansätze ganzheitlich und können dabei helfen, die Lücken zwischen Forschung, Theorie und Praxis zu schließen. Dieses Potenzial wird auch durch die zunehmende Akademisierung der Gesundheitsfachberufe erhöht. In der Hebammenarbeit nimmt interprofessionelles Arbeiten einen großen Stellenwert ein, etwa mit Gesundheits- und KinderkrankenpflegerInnen, GynäkologInnen, PädiaterInnen, PhysiotherapeutInnen und PsychologInnen. Bei freiberuflichen Hebammen gibt es Schnittstellen im Rahmen der gemeinsamen Begleitung von Schwangeren, Wöchnerinnen und Säuglingen oder der Verlegung von Hausgeburten. Im klinischen Alltag bedarf es der Absprache von Betreuungs- oder Behandlungsoptionen sowie eines funktionierenden Notfallmanagements. Auch im Sinne einer gelungenen Überleitung am Ende der Hebammenbetreuung an weiterführende Angebote ist eine interprofessionelle Vernetzung wichtig.
Nicht nur in der praktischen Arbeit, sondern auch in der Forschung hat Interprofessionalität für Hebammen eine große Relevanz. So wirken sie beispielsweise zunehmend an neu entwickelten Leitlinien mit.
Doch wie kann das Arbeiten über die Grenzen der Professionen hinweg gelingen? Ein vielversprechender Ansatz, die interprofessionelle Zusammenarbeit im Berufsalltag zu verbessern, stellt die Integration interprofessioneller Anteile in die Ausbildung und das Studium dar. Dabei werden Studierende und Auszubildende verschiedener Professionen gemeinsam unterrichtet, die an der PatientInnenversorgung beteiligt sind.
Das Lübecker Modell
In Lübeck wurden in den letzten fünf Jahren vier neue Studiengänge der Gesundheitsfachberufe etabliert: Pflege, Physiotherapie, Hebammenwissenschaft und Ergotherapie/Logopädie. Daraus ergab sich die Möglichkeit, die Curricula des Medizinstudiengangs und der neuen Studiengänge interprofessionell zu gestalten. Dabei werden vier aufeinander aufbauende Ziele verfolgt: Zuerst soll ein Miteinander-Lernen etabliert werden. Dazu wird der gemeinsame Besuch von geeigneten Lehrveranstaltungen angestrebt. Für das zweite Ziel, voneinander lernen, werden in interprofessionellen Lehrveranstaltungen unterschiedliche Perspektiven der einzelnen Berufe auf ein Thema verdeutlicht. Drittens wird die spätere Teamarbeit durch die gezielte Schulung und Förderung von Fähigkeiten und Kompetenzen unterstützt, die für die Arbeit im multiprofessionellen Team notwendig sind. Schließlich soll die wissenschaftliche Zusammenarbeit als gemeinsame Grundlage der beteiligten Studiengänge etabliert werden. Mit dieser Strategie versucht die Universität zu Lübeck genau die Bereiche anzusprechen, die für eine spätere gemeinsame Tätigkeit relevant sind.
Sie verankert interprofessionelle Lehre dort, wo sie inhaltlich sinnvoll ist: Grundlagenfächer, wissenschaftliche Kompetenzen und Kommunikation stellen geeignete Felder dar. Alle interprofessionellen Lehrveranstaltungen werden empirisch untersucht. Dabei zeigt sich, dass Studierende insbesondere den intensiven Kontakt auf Augenhöhe schätzen. Interprofessionelle Tischgruppen im anatomischen Präparierkurs, Training von Teamwork und Kommunikation in gemischten Kleingruppen oder die selbstständige Bearbeitung von Forschungsfragen in interprofessionellen Arbeitsgruppen stellen Elemente erfolgreicher interprofessioneller Lehre dar. Klassische Lehrveranstaltungen mit Frontalunterricht bieten hingegen nur wenige Möglichkeiten für interprofessionellen Kontakt.
Hervorzuheben ist, dass die meisten der Maßnahmen das verpflichtende Kerncurriculum betreffen und somit alle Studierenden der beteiligten Studiengänge erreichen. Damit betrachtet die Universität die interprofessionelle Zusammenarbeit so, wie sie später in der Praxis idealerweise sein sollte: als eine Selbstverständlichkeit.
Der duale Bachelorstudiengang Hebammenwissenschaft
Bisher saßen viele Hebammen während ihrer Ausbildung im Unterricht zu pflegerischen Inhalten und haben sich gefragt, warum sie von einer Pflegefachkraft unterrichtet werden, während die Auszubildenden der Pflege nebenan sitzen und das Gleiche hören. Warum nicht in den direkten Austausch gehen, um gemeinsame Diskussionen anzuregen? Wäre es nicht wichtig, sich kennenzulernen, Berührungsängste zu verlieren und Barrieren abzubauen? Deshalb wurden für die Entwicklung des Curriculums für den Studiengang Hebammenwissenschaft zunächst die inhaltlichen Schnittstellen zu den bestehenden Studiengängen Humanmedizin, Pflege und Physiotherapie identifiziert. Die Lehre sollte dementsprechend immer dort interprofessionell stattfinden, wo es inhaltlich sinnvoll ist.
Abbildung 1 zeigt einige Themen, die werdenden Hebammen gemeinsam mit anderen Studierenden vermittelt werden. An der Universität zu Lübeck wird dies folgendermaßen umgesetzt:
Abbildung 1: Ausgewählte interprofessionelle Veranstaltungen des dualen Bachelorstudiengangs Hebammenwissenschaft
Legende: HeWi – Hebammenwissenschaft, Logo – Logopädie, Physio – Physiotherapie, Med – Humanmedizin, Ergo – Ergotherapie
Das Miteinander-(Er)Lernen physiologischer Vorgänge bietet eine gemeinsame Wissensgrundlage für Studierende der Hebammenwissenschaft, Pflege und Physiotherapie.
Der Aspekt Voneinander-Lernen wird unter anderem in »Grundlagen der Pflege« fokussiert. In Kleingruppen von bis zu fünf Personen erlernen werdende Hebammen gemeinsam mit angehenden Gesundheits- und KrankenpflegerInnen, Gesundheits- und KinderkrankenpflegerInnen sowie AltenpflegerInnen pflegerische Fähigkeiten, beispielsweise die Versorgung von Bauchwunden. Die unterschiedlichen Einsatzorte und Erfahrungen aus der Praxis der Studierenden fließen in Diskussionen während der Übungen ein und ermöglichen es den Studierenden, das Spektrum pflegerischer Maßnahmen zu erweitern.
Mit- und voneinander Lernen wird zudem in einigen Veranstaltungen der Frauenheilkunde und Geburtshilfe realisiert, indem den Studierenden der Hebammenwissenschaft und Humanmedizin geburtshilfliche Themen von DozentInnen der jeweiligen Fachrichtung vermittelt werden. So wird die Vorlesung »CTG, normale Geburt, vaginal-operative Entbindung und Sectio« gemeinschaftlich von Dozierenden aus der Hebammenwissenschaft und der Gynäkologie gehalten. Auch hier bietet sich die Chance zum Austausch, um Fragestellungen der Geburtshilfe interprofessionell kritisch zu betrachten und physiologische Aspekte gleichberechtigt neben pathologischen zu thematisieren.
Der wichtige interprofessionelle Aspekt Teamarbeit kommt beispielsweise im anatomischen Präparierkurs zum Tragen. Unter der Anleitung Dozierender präparieren die Hebammenstudentinnen hier gemeinsam mit Studierenden der Humanmedizin. Dabei können unter anderem theoretisch vermittelte Kenntnisse sowie erlangte Kompetenzen zur Kommunikation im Team praktisch erprobt und geübt werden.
Schließlich werden die Studierenden der Hebammenwissenschaft, Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie sowie der Pflege gemeinsam an die wissenschaftliche Zusammenarbeit herangeführt. Im Themenkomplex des »wissenschaftlichen Arbeitens« bearbeiten und bewerten sie Studien mit interprofessionellen Fragestellungen, beispielsweise zu Beckenbodenproblemen. Damit können sie die Wichtigkeit interprofessioneller Forschung unmittelbar erkunden.
Die Evidenz
Die Frage nach der Effektivität interprofessioneller Ausbildung steht im Zentrum vieler Forschungsarbeiten, die Literatur dazu nimmt zu. Eine gute Übersicht geben Scott Reeves und KollegInnen in einem Review, das sowohl Bedingungen für ein Gelingen herausstellt als auch Effekte auf verschiedenen Ebenen unterscheidet (Reeves et al. 2016). Die Ebenen reichen dabei von den Reaktionen der Lernenden bis zur unmittelbaren PatientInnenversorgung. Zum einen haben interprofessionell ausgerichtete Maßnahmen insgesamt deutlich positive Effekte: Sie steigern das Wissen und die Fähigkeiten der Lernenden und verbessern deren Einstellung zur interprofessionellen Zusammenarbeit. Darüber hinaus zeigen sich Erfolge im Bereich der Teamarbeit und in organisationalen Abläufen. Positive Effekte werden auch auf PatientInnenebene erreicht: gesteigerte PatientInnenzufriedenheit, geringere Fehlerhäufigkeiten und sogar die Verringerung von Infektionsraten konnten nachgewiesen werden.
Zum anderen zeigt sich, dass der überwiegende Teil der Studien auf die Ebene der Lernenden abhebt und beispielsweise deren Einstellungen oder Wissen misst. Verhaltens-, praxis- und patientInnenbezogene Effekte werden deutlich seltener betrachtet. Auch in Lübeck werden die Auswirkungen interprofessioneller Lehre untersucht. Die Studierenden sind mit vielen interprofessionellen Lehrangeboten sehr zufrieden und fragen entsprechende Wahlfächer stark nach. Zu den Effekten auf Ebene der PatientInnenversorgung liegen noch keine Ergebnisse vor. Immerhin dauert es noch zwei Jahre, bis die ersten examinierten Bachelor-Hebammen ihren akademischen Abschluss erhalten werden. Die Verantwortlichen versprechen sich aber, ihren Absolventinnen durch die interprofessionelle Lehre genau die Kompetenzen mit auf den Weg zu geben, die für eine erfolgreiche interprofessionelle Zusammenarbeit notwendig sind. Durch die Vermittlung der entscheidenden Kompetenzen und des entsprechenden Selbstverständnisses streben sie schlussendlich nichts weniger als einen Kulturwandel an: den Wandel von fragmentierten Behandlungsschritten und streng hierarchischen Strukturen zu integrierten Versorgungsansätzen und der Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Oder kurz: von einem Neben- zu einem Miteinander.
Politik und Geschäftsführung schaffen den Rahmen
Die spätere praktische Zusammenarbeit zu fördern und damit möglichst zu verbessern, wird in Zukunft eine immer wichtigere Aufgabe in der Ausbildung aller Gesundheitsberufe werden. Die Akademisierung von Hebammen in Deutschland bietet die Chance, interprofessionelle Lehr- und Prüfungsinhalte zu verankern. Voraussetzungen hierfür sind definierte Ziele, die Identifizierung geeigneter Kursinhalte sowie Fortbildungsmöglichkeiten für Dozierende (WHO 2010; Racine et al. 2016).
Jedoch darf dieses Anliegen nicht die strukturellen Gegebenheiten ausblenden, die das Miteinander in der Versorgung häufig erschweren. Zunehmende Arbeitsverdichtung, knappe personelle Ressourcen und eine im internationalen Vergleich starke Hierarchisierung der Behandlungskompetenzen sind zentrale Faktoren, die einer gelungenen Zusammenarbeit häufig im Wege stehen (Ärzteblatt 2019). Nicht zuletzt müssen also Politik und Geschäftsführung Rahmenbedingungen schaffen, die langfristig eine interprofessionelle Versorgung ermöglichen, bei der das PatientInnenwohl im Mittelpunkt steht.
Literatur
Deutsches Ärzteblatt (online): Hebammen rufen nach »Geburtshilfe-Stärkungsgesetz«. 2019. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/102793/Hebammen-rufen-nach-Geburtshilfe-Staerkungsgesetz (letzter Zugriff: 29.05.2019)
HRK (Hochschulrektorenkonferenz): Interprofessionelles Lehren und Lernen in hochschulisch qualifizierten Gesundheitsfachberufen und der Medizin. Impulspapier des Runden Tisches Medizin und Gesundheitswissenschaften des Projekt nexus der HRK. 2017
Houldin AD, Naylor MD, Haller DG: Physician-nurse collaboration in research in the 21st century. J Clin Oncol 2004. 22: 774–776
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