Poster

Lesen an der Nabelschnur

Eine Studentin an der Fachhochschule Salzburg hat Expertinnen zur Bedeutung der Nabelschnurpulsation für die extrauterine Adaptation des gesunden Neugeborenen und für die Plazentageburt befragt. Für sie wurde so das „Wunderwerk der Plazenta und des Nabelschnurpulses“ sichtbar und beschreibbar. Sie stellte ihre Masterthesis auf dem 2. DHZCongress vor und gewann mit ihrem Poster den 3. Preis. Ilse Bettina Steininger

Denis Walsh, Professor für Hebammenwissenschaften an der Universität Nottingham, Großbritannien, stellte im Jahr 2012 fest, dass das Wissen zur Physiologie der Plazentarperiode und die dazu gehörigen Bilder im klinischen Alltag der letzten 40 Jahre nahezu verloren gegangen seien (Walsh 2012: 18). Es sei jedoch relevant für die Ausbildung von Hebammen, da es die Basis für eine individualisierte Hebammenarbeit für Frauen beziehungsweise Paare darstelle, die sich eine ungestörte Plazentarperiode und Bondingzeit wünschen (Walsh 2012: 19). Anne Barnes, Hebamme, regte an, das spezielle Wissen um die Physiologie der Plazentageburt und die abwartende Plazentarperiodenbegleitung zu erhalten und zu beschreiben (Barnes 2013: 20). Dies wurden die Ziele für meine Masterthesis.

 

Die Methode

 

Als Methode wurde das systematisierende Expertinneninterview gewählt, bei dem die Expertin Auskunft gibt über Tatbestände, Fakten und Prozesse. Alle für die Masterarbeit befragten Expertinnen verfügten zum Zeitpunkt des Interviews über eine praktische Erfahrung mit der Geburtshilfe im außerklinischen Bereich von mindestens fünf Jahren. Sie waren in eigener Praxis oder in einem Geburtshaus tätig. Die abwartende Begleitung der Plazentarperiode ist bei allen der Normalfall (100 Prozent). Oxytocin wird ausschließlich therapeutisch eingesetzt, das heißt bei Plazentalösungsstörungen oder vermehrter Blutung post partum. Die Häufigkeit postpartaler Blutungen lag bei allen in den zurückliegenden beiden Jahren unter vier Prozent. Bluttransfusionen wurden in den letzten zwei Jahren weder von Müttern noch von Kindern benötigt. Reanimationsbedürftige Neugeborene wurden selten gesehen und bei ihrem Auftreten unmittelbar nach der Geburt an der Nabelschnur reanimiert. Alle Expertinnen üben ihr Vorgehen bei Reanimationen von Mutter und Kind regelmäßig.

Als Voraussetzungen für den Leitfaden zu den Expertinneninterviews wurde eine Bearbeitung der physiologischen und anatomischen Grundlagen, sowie der Evidenzen zur Intervention in die Nabelschnurpulsation bearbeitet und im Theorieteil beschrieben. Der Leitfaden wurde zweimal getestet und angepasst. Die Interviews wurden auf Tonband aufgenommen und zeitnah transkribiert. Die gewonnenen qualitativen Daten wurden mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring bearbeitet. Hierauf folgte die Beschreibung der gewonnen Ergebnisse und deren Diskussion.

 

Zeit des großen Überganges

 

Für die befragten Expertinnen ist die Plazentarperiode die Zeit des großen Überganges. Sie beobachten und schützen deren Prozesse (extrauterine Adaptation des Neugeborenen, Augen- und Hautkontakt von Mutter und Kind, Selfattachement und Spontangeburt der Plazenta). Ihre schützendes Tun und Nicht-Tun entspricht der psycho-physiologischen Betreuung der Plazentarperiode, die im englischsprachigen Raum von Fahy et al. (2009) beschrieben und erforscht wurde. Die von den befragten Expertinnen beschriebene Begleitung dieser letzten Geburtsphase gilt als sicher für Gebärende, die einem Low-Risk-Kollektiv für postpartale Blutungen angehören, wie sich in retrospektiven Analysen von Hebammendatenbanken bei mehr als 36.000 hebammengeleiteten Geburten zeigte (Dixon et al. 2009; Dixon et al. 2013; Davis 2013).

Die befragten Expertinnen stimmen mit Morley (2011) überein, wenn sie den Nabelschnurpuls die größte Ressource des Neugeborenen, der Mutter und der Hebammen nennen. Die Nabelschnurpulsation lässt das fetale Blut zwischen dem Kind und seiner Plazenta zirkulieren und versorgt das Neugeborene während seiner extrauterinen Adaptation mit Sauerstoff, Glucose und Körperwärme. Die Nabelschnurpulsation stellt damit eine postnatale plazentare Respiration dar, welche das Neugeborene während der komplexen Anpassung seines Herz-Lungenkreislaufes absichert (Dunn 1966). Auch der Transfer von pluripotenten Stammzellen, die das Potenzial haben, Schäden an Lungen, Herz und Gehirn zu reparieren, wird ermöglicht (Tolosa et al. 2010).

Die Pulsation der Nabelschnur führt zu einer natürlichen Drainage der Plazenta und der Nabelschnur. Dies scheint in Kombination mit einer aufrechten Gebärhaltung die Plazentageburt zu fördern (Botha 1968). All dies sind für die befragten Expertinnen triftige Gründe, nicht in die Nabelschnurpulsation zu intervenieren und erst nach der Plazentageburt abzunabeln.

Das Abnabeln stellt in der Erfahrung der Expertinnen keine physiologische Notwendigkeit zum Schutz des Neugeborenen dar (Hutchon 2012), da das fetoplazentare System in sich geschlossen ist. Es stellt aber eine Intervention in die Physiologie der extrauterinen Adaptation und der Spontangeburt der Plazenta dar. Sie wird als Normintervention ausgeführt, ohne den Nachweis ihrer Unschädlichkeit für die Physiologie oder ihren Nutzen belegt zu haben (Soltani 2008; Botha 1968; Hutchon 2012).

Neugeborene, die sofort oder früh abgenabelt werden, verlieren 20 bis 40 Prozent ihres Blutvolumens (Mercer 2002) und sind im Durchschnitt 116 Gramm leichter (Farrar 2011). Früh abgenabelte Neugeborene werden aufgrund dieser Intervention einem signifikant höheren Risiko für frühkindliche Anämien ausgesetzt (Chamarro 2011). Bei Säuglingen können Anämien die neurologische Entwicklung nachhaltig negativ beeinflussen (Lozoff 2006).

Anhand des Nabelschnurpulses können die befragten Expertinnen den Adaptationszustand des Neugeborenen erkennen und interpretieren. Ein kräftiger Puls in einer prall gefüllten Nabelschnur zeigt eine parasympathische Dominanz und eine Blutzirkulation zwischen der Plazenta und dem Neugeborenen an. Das Erlöschen des Nabelschnurpulses wird bei einem atmenden, warmen und rosigen Neugeborenen, das einen stabilen Kreislauf aufweist, die Augen geöffnet hat und entspannt an der Mutterbrust trinkt, als Gesundheitszeichen der erfolgreichen extrauterinen Adaptation gewertet.

 

Reanimation an der Nabelschnur

 

Auch schwerwiegende Komplikationen im Prozess der extrauterinen Adaptation können an der Nabelschnur abgelesen werden. Ein bleiches, schlaffes Neugeborenes ohne Atmung zeigt seine Notlage in Form einer fehlenden oder nicht tastbaren Pulsation der Nabelschnur. Die Nabelschnur erscheint weißlich-dünn und leblos. Für die befragten Expertinnen stellt dies kein Plazentalösungszeichen, sondern ein vorübergehendes Zeichen der Kreislaufzentralisation aufgrund einer Hypovolämie dar. Alle peripheren Gefäße, einschließlich der ab- und zuführenden Nabelschnurgefäße, kollabieren. Die befragten Expertinnen beheben diesen Notfall, indem sie die Füllung der Nabelschnur erleichtern durch die sofortige Lagerung des Neugeborenen unter dem Niveau der Plazenta (circa 30 Zentimeter) und durch das Anheben des mütterlichen Beckens. Unterstützt wird das erneute Einsetzen der Nabelschnurpulsation durch die pumpende Wirkung der Plazentawehen post partum und die Erdanziehung. Eine Ventilation der kindlichen Lunge erzeugt darüber hinaus eine Sogwirkung auf die Nabelschnurvene. Diese kann mit einem speziellen Baby-Ambubeutel und Raumluft effizient geschehen. Bei Bedarf sollte das Neugeborene vor der Beatmung abgesaugt werden. Eine Herzmassage ist nötig, wenn die Herzfrequenz des Neugeborenen insuffizient ist (< 60 spm) (Rockel-Loenhoff 2001).

Setzt die Nabelschnurpulsation wieder ein, ist die Plazenta ein „zuverlässiges Mitglied des Reanimationsteams" (Göbel 2013). Sind die Atmung und der Puls stabilisiert, verbleibt das Neugeborene an der intakten Nabelschnur, bis die Plazenta geboren ist, und wird in die Umarmung seiner Mutter gegeben, während es sich erholt und beruhigt. Bei Bedarf kann ihm Sauerstoff vorgelegt werden.

Eine akute Hypovolämie nach einer engen Nabelschnurumschlingung oder nach einer Schulterdystokie kann den Erfolg einer Reanimation kompromittieren (Mercer 2005). Die Volumensubstitution über Infusion/Transfusion in die Nabelschnurvene ist immer mit einer Zeitverzögerung verbunden. Außerdem muss bedacht werden, dass Nabelschnurblut in seiner Zusammensetzung nicht durch Infusionslösungen oder Blut von Erwachsenen ersetzbar ist und die Volumensubstitution nur ein Teilaspekt der Nabelschnurpulsation ist. Deshalb wird die Reanimation an der Nabelschnur von einer steigenden Zahl von AutorInnen befürwortet, auch wenn hier nur von einem Zeitraum zwischen 30 Sekunden und drei Minuten ausgegangen wird (Hutchon 2012; van Rheenen 2006). In der Notfallsituation steht für die Expertinnen neben den der Reanimation das Schaffen eines heilsamen Klimas im Zentrum (Benner 2012). Bei einer Reanimation an der Nabelschnur bleiben die Eltern die wichtigste emotionale Ressource für ihr Neugeborenes.

 

Resümee

 

Das von den Expertinnen und der deutschsprachigen Literatur beschriebene Vorgehen zur Reanimation an der Nabelschnur ist einfach und ressourcenorientiert.

Dieses Vorgehen wird in der wissenschaftlichen Fachliteratur und in aktuellen Guidelines zu Reanimation von Neugeborenen nicht beschrieben. (Fach-)Hochschulen sollten praktizierenden Hebammen die Möglichkeit bieten, ein vertieftes Wissen zur physiologischen Adaptation praktisch anzuwenden und die Reanimation des Neugeborenen an der Nabelschnur im Simulationstraining zu üben.

Die Plazenta und die Plazentarperiode haben ein Imageproblem. Frauen wünschen sich Informationen zum Nabelschnurpuls und zum Ende der Geburt (Wichert 2013). Hebammen können aufgrund ihrer Ausbildung, ihrer Erfahrung im Bereich der Physiologie und ihres niederschwelligen Angebotes eine wichtige Rolle spielen bei der Vermittlung von Wissen zur Physiologie und bei der Vermittlung von positiven Bildern zur Plazentarperiode, zur Plazenta und zur Nabelschnurpulsation.

Die Plazentarperiode sollte in der Geburtsvorbereitung und in der Schwangerenvorsorge thematisiert werden. Hier kann die Plazenta als ein Körperteil des Kindes dargestellt werden, welches das Neugeborene in den ersten Lebensminuten absichert und schützt. Die Gebärende muss wissen, dass die Geburt der Plazenta das Ende der Geburt darstellt und diese Geburtsphase die gleiche Konzentration, Hingabe und Bewegung erfordert wie die Geburt des Kindes selbst. Die Plazenta und die Nabelschnurpulsation sind der Zauber, der den Anfang des menschlichen Lebens sichert.

Rubrik: Ausbildung und Studium | DHZ 12/2014

Literatur

Altay, M/ Ilhan, A/ Haberat, A (2007). Length of third stage of labour at therm pregnancies is shorter if placenta is located at fundus: a prospective study. In: Journal of Obstetrics and Gynaecology Research. 5/2007, 33, 641-644

Airey, R/ Farrar, D/ Duley, L (2010). Alternative Position for baby at birth before clamping the umbilican cord, The Cochrane Library, Issue 10

Andersson, O (2013). Effect of Delayed versus early umbilical cord clamping on Healthy Term Infants. Acta Universitatis Upsaliensis. Digital Comprehensive Summaries of Uppsala Dissertations from the Faculty of Medicine 893. 66pp. Uppsala. ISBN 978-91-554-8637-1.
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