Feminismus in der Medizin- und Bioethik

Forschungslücken

Die neue Arbeitsgruppe »Feministische Perspektiven in der Medizin- und Bioethik« fasst ihre Bestandsaufnahme von Feminismus in der Medizin zusammen. Historisch zeigt sich eine enge Verflechtung von Feminismus, Gesundheit und Medizin in Deutschland. Aktuell richtet die feministische Forschung in der Medizin- und Bioethik den Blick auf Fragen der Reproduktion. Wo liegt in Zukunft der Fokus? Dr. Mirjam Faissner | Dr. Kris Vera Hartmann | Dr. Isabella Marcinski-Michel | Regina Müller | Dr. Merle Weßel

Feministische Perspektiven sind inzwischen in internationalen Debatten über Bio- und Medizinethik fest verankert (Scully 2021; Tong 2018). Die internationalen Diskurse in der Care-Ethik, feministisch-ethische Betrachtungen von Reproduktionsfragen oder feministische Perspektiven zu sozialer Gerechtigkeit zeigen, dass ein feministischer Blickwinkel auf medizin- und bioethische Themen wichtig ist. Dieser kann dazu dienen, Machtstrukturen und Fragen von Gerechtigkeit und Gleichstellung zu untersuchen (de Proost 2021; Robinson 2011). Im deutschsprachigen Raum scheint eine systematische Berücksichtigung feministischer Perspektiven zu fehlen.

Im September 2021 gründete sich die Arbeitsgruppe »Feministische Perspektiven in der Medizin- und Bioethik« in der Fachgesellschaft Akademie für Ethik in der Medizin e.V. (AEM). Die Initiatorinnen sind Nachwuchswissenschaftlerinnen in der Medizinethik, die sich für feministische Perspektiven und Theorien interessieren, die sie bislang in der deutschsprachigen Medizin- und Bioethik vermisst haben. Die AG will Personen zusammenbringen, die sich im deutschsprachigen Raum damit beschäftigen. So sollen Austausch, Vernetzung und Zusammenarbeit an feministischen Fragestellungen in der Medizin- und Bioethik ermöglicht werden.

 

Feminismus und Frauen­gesundheit in der Geschichte

 

Um feministische Perspektiven in der deutschsprachigen Medizin- und Bioethik zu verstehen, ist es notwendig, zunächst einen Blick in die Geschichte der Frauengesundheit sowie des Feminismus in der Medizin zu werfen. Frauengesundheit spielt insbesondere im Rahmen von Schwangerschaft und Geburt eine besondere Rolle. Vor der Medikalisierung der Schwangerschaft und der Erschaffung der zunächst männlich dominierten Gynäkologie im 19. Jahrhundert waren das »Frauenthemen«, die kaum eine Rolle im medizinischen Denken spielten (Marland 1993). Sobald Frauen Ende des 19. Jahrhunderts erstmals in Deutschland zum Medizinstudium zugelassen wurden, zeigten Ärztinnen ein großes Interesse an der Gynäkologie. Viele der frühen Ärztinnen waren in der Frauenbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts tätig (Weßel 2018a). Auch in der Mitte des 20. Jahrhunderts war es die feministische Bewegung in Folge der »68er«, die sich zum Beispiel für die Pille (aber auch dagegen), für sexuelle Selbstbestimmung und gegen das Verbot von Abtreibung in Deutschland einsetzte.

Obwohl Feminismus und Medizin seit jeher eng verbunden sind, blieb ein Unbehagen vor feministischen Perspektiven in der Medizin bestehen. Eine Verunglimpfung als »Frauen«-Perspektive zeigt eines der Missverständnisse feministischer Perspektiven in der Medizin sowie der Medizin- und Bioethik. Auch wenn als Frauen definierte Personen oft im Mittelpunkt feministischer Betrachtungen stehen, handelt es sich hierbei nicht um eine »Frauen«-Problematik. Vielmehr zeigt es, dass diese in der Medizin weiterhin Benachteiligungen und Diskriminierungen erleben und damit als marginalisierte Gruppe im Fokus eines Feminismus stehen, der kritisch Machtstrukturen untersucht.

 

Typisch um 1900: Dr. Hermine Heusler-Edenhuizen

 

Feminismus im Sinne des Engagements für Frauen und für »weibliche« Themen in der Medizin sind historisch eng miteinander verbunden. So waren es zunächst die medizinischen Fakultäten in Deutschland und anderen Ländern Europas, die Frauen zum Studium der Medizin zuließen (Weßel 2018a). Eine dieser Frauen war Dr. Hermine Heusler-Edenhuizen (1872–1955). Geboren auf der Burg Pewsum bei Emden, stammte die Tochter eines Arztes aus dem bürgerlichen Milieu. 1889 nahm Heusler-Edenhuizen ein Medizinstudium zunächst in Zürich und später in Halle und Bonn auf. Nach ihrem erfolgreichen Abschluss praktizierte sie als Gynäkologin in Köln und Berlin (Prahm 2011).

Heusler-Edenhuizen war nicht nur praktizierende Gynäkologin, sondern involvierte sich auch in die politischen Diskurse ihrer Zeit. Sie setzte sich dafür ein, dass Väter Verantwortung für ihre Kinder übernehmen und Verhütungsmittel frei verkäuflich sein sollten, für die Abschaffung des § 218 sowie für sexuelle Aufklärung (Ludwig 2018). So unterzeichnete sie 1930 eine Reichstagseingabe »Berliner Ärztinnen gegen den Paragrafen 218« (Ludwig 2018).

Heusler-Edenhuizens Lebensweg war typisch für Ärztinnen um 1900. Der schwer erkämpfte Zugang zu Bildung und dem Medizinstudium machte sie oftmals auch zu politischen Akteurinnen und Verfechterinnen von Frauenrechten. Insbesondere kämpften sie für das Recht, über den eigenen Körper zu bestimmen.

 

Frühe Familienplanung in den USA

 

Auch international zeigt sich die enge Verknüpfung von Feminist:innen mit Fragen der Frauengesundheit und Medizin. Die US-amerikanische Sexualaufklärerin und Krankenschwester Margaret Sanger (1879–1966) stand zum Beispiel als Gründerin der Organisation »Planned Parenthood« politisch für Fragen der Frauengesundheit ein. Sie setzte sich für Verhütung und Abtreibung ein, allerdings auch für Zwangssterilisierung von armen Frauen, deren Reproduktion ihrer Ansicht nach reguliert werden sollte (Weßel 2018b). Damit schloss sie an nationalökonomische Verelendungstheorien (Neo-Malthusianismus) an, die in der zu großen Kinderzahl von Armen die Ursache von Armut sahen (Rainer 2004) und die mit rassistischen Diskursen und Praktiken eng verwoben waren (Hartmann 2021). Wegen ihres politischen Kampfes gegen das (Werbe-)Verbot von Verhütungsmitteln und Abtreibung wurde Sanger mehrmals verhaftet und vor Gericht gestellt.

Frauengesundheit war neben dem Wahlrecht ein Hauptthema der Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts. Insbesondere die Verbesserung der reproduktiven Gesundheit von Frauen, die durch viele Geburten, laienhafte Abtreibungen und schlechte Lebensumstände bedroht war, stellte ein Anliegen dieser Feministinnen dar.

 

Für und gegen die Pille

 

Die enge Verbindung von Medizin und feministischem Aktivismus setzte sich in der Frauenbewegung in der Mitte des 20. Jahrhunderts fort. In der westdeutschen Frauenbewegung ab den späten 1960er Jahren wurde mit Blick auf ungerechte gesellschaftliche Herrschafts- und Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen immer wieder der medizinische und medikalisierende Blick auf den Frauenkörper infrage gestellt. Ausdruck der zu dieser Zeit entstehenden Frauengesundheitsbewegung sind zum Beispiel die populären »Frauenhandbücher« (Brot & Rosen 1972/1974; Feministisches Frauen Gesundheits Zentrum Berlin 1977).

Als Beispiel einer Auseinandersetzung mit der Medizin in der zweiten Frauenbewegung kann auch der Umgang mit hormoneller Verhütung gesehen werden (Hartmann 2021). In der Durchsetzungsphase der »Pille« in den frühen 1960er Jahren sowie im Zuge der Forderungen nach einer offeneren Verschreibungspraxis in der Schüler:innen- und Studierendenbewegung ab den späten 1960er Jahren musste die Pille gegen konservative Stimmen verteidigt werden. Aber bald wurden kritische Stimmen gegenüber dem hormonellen Eingriff in den Körper laut, zum Beispiel im Buch »Ärzte contra Pille« der US-amerikanischen Publizistin Barbara Seaman, das auch in der BRD gelesen wurde (Seaman 1970). Seaman kritisierte die schweren Nebenwirkungen und Folgeschäden wie durch Thrombosen ausgelöste Schlaganfälle, die hormonelle Kontrazeption bewirken kann und die statistisch gesehen als »geringes Risiko« zu wenig ernst genommen wurden. Sie leistete damit einen wichtigen Beitrag zur kritischen Aneignung von medizinischem Wissen, der auch die Vorstellung der »informierten Patientin« beeinflusste (Hartmann 2021).

 

Deutsche Medizinethik

 

In Kooperation mit der Informations- und Dokumentationsstelle Ethik in der Medizin (IDEM) hat die AG »Feministische Perspektiven in der Medizin- und Bioethik« medizinethische Publikationen aus dem deutschsprachigen Raum gesichtet. Die Recherche zeigt für den Zeitraum von 1990 bis heute, dass in medizinethischen Artikeln mit feministischen Bezügen Themen rund um Reproduktionsmedizin eine starke Rolle spielen.

Viele Debatten kreisen um Fragen der künstlichen Befruchtung und Schwangerschaft, die sich von der Samenspende (Thorn 2008) über In-vitro-Fertilisation (Richardt 1996) bis hin zur Eizellspende (Walser 2017) erstrecken. Daran schließen viele Debatten um vorgeburtliche Diagnostik an, etwa um die Pränataldiagnostik und Präimplantationsdiagnostik als ethische Herausforderungen (Arz de Falco 1997; Reitz 2007). Es geht häufig um Schwangerschaftskonflikte mit Blick auf humangenetische Diagnostik (Kuhlmann 1998) sowie um Gender-Fragen (Wolbert 2002) in der Reproduktionstechnologie, beispielsweise mit Blick auf pränatale Geschlechter-Tests (Michelmann et al. 2006).

Das Recht von als Frauen gelesenen Personen auf »weibliche Selbstbestimmung« (Kehrbach 2001) zeigt sich in Debatten um reproduktive Autonomie (Walser 2017), selbstbestimmte Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch (Busch & Hahn 2015). Diskutiert werden Mutterschaft, der aufgeschobene Kinderwunsch und in diesem Zusammenhang »Social Freezing«, das vorsorgliche Einfrieren von unbefruchteten Eizellen ohne medizinischen Grund (Bernstein & Wiesemann 2014). Aber es geht auch um gewollte Kinderlosigkeit (Wippermann 2016), neue Formen der Elternschaft (Kettner 2001) sowie Mutterschaft von queeren oder behinderten Personen (Kalendar 2010).

Arbeitsgruppe

 

Feministische Perspektiven in der Medizin- und Bioethik

 

Die Arbeitsgruppe ist offen für Personen, die sich für feministische Fragen in der Medizin- und Bioethik interessieren und diese innerhalb der AG aktiv mitgestalten möchten. Um über die Aktivitäten und Treffen der AG informiert zu werden, können Sie sich auf die Mailing-Liste der AG setzen lassen. Dazu kontaktieren Sie bitte: merle.wessel@uni-oldenburg.de. Für allgemeine Fragen zur AG wenden Sie sich an: regina.mueller@uni-tuebingen.de.

 

 

Fazit und Ausblick

 

Die Verbindung von Feminismus und Medizin setzt sich also in den aktuellen deutschsprachigen Debatten fort. Sie zeigt sich insbesondere in den Diskursen um Reproduktionsmedizin und bei neueren Entwicklungen wie »Social Freezing«. Diese technologischen Entwicklungen sollten durch eine feministische Medizinethik in ihren vielfältigen Auswirkungen auf die Nutzer:innen kritisch reflektiert werden. Welche Möglichkeiten eröffnen sich für unterschiedlich sozial verortete Akteur:innen? Welche Auswirkungen hat die Möglichkeit der Inanspruchnahme dieser Technologie auf Fragen der Selbstbestimmung und der Optimierung weiblicher Körper? Wer hat Zugang zu den Technologien der Reproduktionsmedizin und wer nicht? Und noch konkreter am Beispiel der Ultraschalltechnologie in der Schwangerschaftsvorsorge: Wie verändern sich das leibliche Erleben von Schwangerschaft und die Beziehung zum Fötus durch den routinemäßigen Einsatz des Ultraschalls? Wie beeinflussen gesellschaftliche Erwartungen eine Entscheidung für (oder gegen) die Inanspruchnahme der Technologien? Wie hängt der Einsatz dieser Technologien mit dem Kampf um einen legalen und sicheren Zugang zu Methoden des Schwangerschaftsabbruchs zusammen? Es gilt, diese Veränderungen mit ihren Auswirkungen auf die sozialen, psychologischen und leiblichen Dynamiken zu beschreiben und zu verstehen.

Die bisherige feministische Bio- und Medizinethik konzentriert sich dabei noch zu sehr auf die Kategorie Geschlecht, sie fragt nach den Erfahrungen von Frauen im Rahmen eines biologisierenden Verständnisses von weiblichen Personen. Hier fehlt oftmals eine Reflexion der sozialen Konstruiertheit von Geschlecht ebenso wie die Perspektive der Männer als eigenständige Akteure und nicht nur als Partner, was die Ethik der Reproduktionsmedizin oft ausblendet. Hier gilt es, Perspektiven der feministischen Bio- und Medizinethik an Debatten der kritischen Männlichkeitsforschung sowie der Männergesundheitsforschung anzuschließen.

Zudem weist die feministische Bio- und Medizinethik in Deutschland eine Forschungslücke bezüglich der Verwendung intersektionaler Ansätze auf: Dabei geht es um die Überschneidung und Gleichzeitigkeit verschiedener Diskriminierungskategorien. Die feministische Theorie der Intersektionalität fragt nach der Verschränkung von Geschlecht mit anderen sozialen Strukturkategorien wie beispielsweise Behinderung, sozio-ökonomischem Status, Alter und »Race« (zu verstehen als soziale Strukturkategorie und nicht als biologische Kategorie im historisch gewachsenen Unterdrückungssystem des Rassismus). Dabei wäre eine Anerkennung der Verwobenheit von Macht- und Diskriminierungsstrukturen und die Auseinandersetzung mit Kolonialgeschichte und Rassismus wichtig, um eine kritische Diskussion von Machtstrukturen in der Medizin zu gewährleisten. Trotz der historisch engen Verbindung von Feminismus und Medizin in Deutschland zeigen sich Forschungslücken, die sich nur durch eine systematische Kooperation von feministisch Forschenden in der Medizin- und Bioethik schließen lassen. Die Arbeitsgruppe »Feministische Perspektiven in der Medizin- und Bioethik« will ein Diskussionsforum bieten, um so die feministische Medizin- und Bioethik als festen Bestandteil der Forschung in Deutschland zu etablieren.

Rubrik: Ausgabe 03/2022

Erscheinungsdatum: 24.02.2022

Literatur

Arz de Falco A: Töten als Anmaßung – Lebenlassen als Zumutung. Die kontroverse Diskussion um Ziele und Konsequenzen der Pränataldiagnostik. Universitätsverlag. Freiburg im Breisgau: 1997

Bernstein S, Wiesemann C: Should postponing motherhood via »social freezing« be legally banned? An ethical analysis. Laws 2014. 3(2):282–300

Brot und Rosen: Frauenhandbuch Nr. 1. Abtreibung und Verhütungsmittel. Berlin 1972/1974

Busch U, Hahn D: Abtreibung. Diskurse und Tendenzen. Transcript. Bielefeld: 2015

De Proost M: Integrating intersectionality into autonomy: Reflections on feminist bioethics and egg freezing. DiGeSt-Journal of Diversity and Gender Studies 2021. 7(2):21–33

Hartmann K V: Pille Macht Diskurs. Hormonelle Kontrazeption im (post-)fordistischen Sexualitätsdispositiv. Budrich Academic Press. Opladen, Berlin & Toronto: 2021

Kalendar U: Nothing beyond the able mother? A queer-crip perspective on notions of the reproductive subject in German feminist...

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