Damit die Milch fließt ...
Bei einer induzierten Laktation sprechen wir über das gezielte Hervorrufen der Milchbildung bei einer Frau, die vorher nicht schwanger war. Grundsätzlich kann die Milchbildung bei jedem Menschen initiiert werden, unabhängig von einer Schwangerschaft (auch bei Männern!). Eine zurückliegende Schwangerschaft erleichtert die Milchbildung, ist aber nicht erforderlich. Frauen können unabhängig vom Alter in die Milchbildung gebracht werden, auch jenseits der Wechseljahre. Einzige Voraussetzung ist eine normal entwickelte Brustdrüse.
Offensichtliche Vorteile
Die induzierte Laktation erfolgt in der Regel bei Frauen, die ein Adoptivkind stillen möchten oder deren Baby von einer Leihmutter ausgetragen wurde. Auch gleichgeschlechtliche Paare fragen zunehmend danach. Die Vorteile der induzierten Laktation liegen auf der Hand: Durch den engen und häufigen Körper- und Hautkontakt beim Stillen wird die Mutter-Kind-Bindung unterstützt.
Stillen fördert die Hand-Augen-Koordination und die Mundmotorik des Kindes. Es ist die optimale Ernährung für das Kind und stärkt das Immunsystem. Auch die Mutter profitiert vom Stillen. Durch den erhöhten Oxytocin- und Prolaktinspiegel haben stillende Frauen eine höhere Frustrationstoleranz. Stillen wird als Teil der biologischen Mutterschaft von den Frauen wahrgenommen. Es wirkt sich positiv auf die Gesundheit der Frau aus, da es das Brustkrebs- und Eierstockkrebsrisiko verringert und das Risiko der Mutter und des Kindes senkt, an Diabetes Typ II zu erkranken.
Seit 2013 arbeiten wir, Susanne Klinge, Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe, Still- und Laktationsberaterin IBCLC a.D., sowie Katrin Bautsch, Kinderkrankenschwester, Neonatalbegleiterin, Still- und Laktationsberaterin IBCLC, gemeinsam in der Stillambulanz der Frauenarztpraxis. So können wir viele Familien durch die kurzen Wege kompetent unterstützen und das Meiste in einem Termin erarbeiten. Die Zusammenarbeit empfinden wir als sehr gewinnbringend für die Familien und auch für uns selbst.
In dem Zeitraum vom 1. Januar bis zum 30. Juni 2022 haben wir zehn induzierte Laktationen begleitet. Vier Frauen kamen in diesem Zeitraum mit dem Wunsch des Relaktierens: Sie wollten die Milchbildung nach gewolltem oder ungewolltem Abstillen wieder aufnehmen und ihre Milchbildung wieder in Gang bringen. 28 Frauen kamen wegen einer ausgeprägten Hypogalaktie. Sie wurden mit Domperidon, entsprechender Aufklärung sowie zu der Familie passendem Stillmanagement unterstützt mit dem Ziel des ausschließlichen Stillens. Insgesamt betreuen wir rund 700 Familien pro Jahr mit Stillschwierigkeiten.
Stillberatung bei induzierter Laktation
Im ersten Telefongespräch mit dem Paar, den Adoptiveltern oder den Auftraggebern für die Leihmutterschaft erkundige ich mich über die Situation. Ist der Geburtstermin bekannt, wie viel Zeit bleibt uns bis zur Geburt? Ich informiere die Familie über induzierte Laktation, empfehle zum Beispiel die Publikationen von Jack Newman, Beiträge und Fallberichte im Internet, unter anderem auf unserer Homepage stillen-lernen.de, bei Stern TV sowie den Podcast »Stillleben«. Sind die werdenden Eltern motiviert das Abenteuer induzierte Laktation anzugehen, finden wir einen gemeinsamen Termin in der Frauenarztpraxis.
Für den Erstkontakt nehme ich mir 90 Minuten Zeit, um die Eltern zu informieren, auch über die Erfolgsquote von 98 %. Ich frage nach der Unterstützung des/der Partner:in und des Umfeldes. Wir sprechen grob über die Abläufe wie das Priming, die Stimulation der Brust und das spätere Abpumpen. Ich untersuche die Brust, leite die Frau zur Handentleerung an und übe es mit ihr. Natürlich möchte ich auch in Erfahrung bringen, wie sich die werdenden Eltern das Stillen und die Abläufe später vorstellen. Es folgt eine ausführliche Anamnese über Grunderkrankungen, insbesondere des Herzens, und zur Einnahme von Medikamenten.
Es gibt eine mündliche und schriftliche Aufklärung über den Off-Label-Use von Domperidon. Dann erstellen wir einen individuellen Behandlungsplan. Von ärztlicher Seite erfolgen eine Untersuchung der Brust sowie die Aufklärung über das Medikament und dessen Nutzung im Off-Label-Use. Die gesamte Untersuchung und Behandlung werden ausführlich schriftlich dokumentiert.
Wichtig ist, dass die Eltern den Kontakt zu uns halten, um eine erfolgreiche und sichere Behandlung zu gewährleisten. Ich freue mich über Nachrichten, wann die ersten Tropfen Milch gewonnen werden und wie der weitere Verlauf ist. Gemeinsam besprechen wir dann das weitere Prozedere.
Schema zur induzierten Laktation
Gutes Stillmanagement
Wirkprinzip
Durch die Einnahme von Antibabypille und Domperidon ..
- wird die Milchbildung unterdrückt
- nimmt das Brustvolumen zu
- wird das Drüsengewebe transformiert.
Das Absetzen der Antibabypille, die Einnahme des Domperidons und das Pumpen führt zu
- einem raschen Abfall des Progesteronspiegels
- einem Anstieg des Prolaktinspiegels.
Dieser Prozess ahmt nach, was bei einer normalen Schwangerschaft und Geburt geschieht.
6 Monate bis 6 Wochen vor ET:
- Antibabypille (kombiniert Estrogen/Gestagen, keine Gabe bei Frauen mit erhöhtem Risiko für venöse Thromboembolie, Migräne mit Aura)
- 4 x 10 mg Domperidon/Tag für 1 Woche, danach 3 x 30 mg/Tag
- Kein Pumpen oder Einnahme von Kräutern!
6 Wochen vor ET:
- Domperidon 3 x 30 mg/Tag
- Antibabypille absetzen! -> vaginale Blutung
- Pumpen nach Schema! alle 3 Stunden! Doppelpumpset
- Intervallpumpen, ggf. Massage, Ausstreichen.
4 Wochen vor ET:
Der Prolaktinspiegel steigt physiologisch zwischen 1 Uhr und 5 Uhr. Das Pumpen während der Nacht nutzt das aus. Zusätzlich hat die Frequenz des Brustleerens auf die Milchversorgung mehr Einfluss als die Dauer. Je öfter die gepumpt wird, desto mehr Milch wird gebildet.
- Domperidon 3 x 30 mg/Tag
- Pumpen wie oben beschrieben + mindestens 1 x während der Nacht.
Sobald das Baby da ist:
- Domperidon 3 x 30 mg/Tag
- Das Baby so bald wie möglich anlegen (am besten schon im Kreissaal)
- Nach Bedarf stillen, möglichst 10–12 x in 24 Stunden
- Falls nötig, 1 Stunde nach jedem Stillen zusätzlich pumpen, bis die volle Laktation etabliert ist
Sobald die Milchbildung voll etabliert ist:
- Domperidon langsam in Rücksprache mit der Laktationsberaterin stufenweise reduzieren/absetzen.
Gutes Stillmanagement ist der Schlüssel zur ausreichenden Milchbildung:
- viel Haut- und Körperkontakt
- häufige Bruststimulation
- auf korrekte Stillposition vorbereiten
- milchmindernde Einflüsse meiden
- keine künstlichen Sauger.
Quelle: Bautsch und Klinge © 2014, modifiziertes Newman-Goldfarb Protokoll
Das Brusternährungsset
Sollte die Milchbildung bei Ankunft des Kindes noch nicht ausreichend sein, nutzen wir das Brusternährungsset (BES).
Viele Kolleginnen, aber auch Mütter, scheuen sich, dieses Hilfsmittel zu nutzen, da es auf den ersten Blick kompliziert erscheint. Für mich ist es ein unersetzliches Hilfsmittel, um Frauen in die Laktation zu bringen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Ist die Mutter gut angeleitet, kann sie ihr Kind ausschließlich an der Brust ernähren, auch mit zusätzlicher Formulagabe. Sie wird routinierter beim Anlegen ihres Kindes. Das Baby bleibt bei seinem physiologischen Saugmuster, es wird sicherer in seinem Saugverhalten. Flaschenfütterungen führen nicht selten zu Irritationen: Oft wird bei mangelnder Milchbildung und zusätzlichen häufigen Flaschenfütterungen die Trinkmenge aus der Flasche mehr und das Trinken an der Brust ineffektiver. Die Milchbildung lässt sich mit dem Brusternährungssystem durch bessere Stimulation der Brust steigern.
Wird das Stillmanagement angepasst und ein häufiges Wechselstillen durchgeführt, kann die Mutter auf das Abpumpen mit einer elektrischen Pumpe verzichten. Dies spart viel Zeit und Arbeit. Beim Adoptivstillen ist das umso wichtiger, da die Frauen mehr Zeit zum Milchaufbau benötigen.
Ich leite die Frauen so an, dass sie in der Regel den kleinsten Schlauch verwenden und den Behälter in die gegenüberliegende BH-Seite legen. Den Behälter um den Hals zu tragen, empfinden viele als unangenehm. So ist es auch unauffälliger, mit dem BES in der Öffentlichkeit zu stillen. Bei geringen Mengen der Zufütterung geht es auch mit einem selbstgebauten Set in Anlehnung an ein in den USA angebotenes BES. Allerdings dürfen zu diesem Zweck nur für die Ernährung von Säuglingen zugelassene Medizinprodukte verwandt werden (Magensonde Größe 0,4 Ch für Früh- und Neugeborene, niemals größer!). Selbst angefertigte BES gehen haftungsrechtlich auf die Person zurück, die diese bei Patientinnen benutzt.
Fallbeispiel I: Das lesbische Paar
Die schwangere Martina und Nicole als Co-Mutter kamen acht Wochen vor dem errechneten Geburtstermin in die Praxis. Der Wunsch beider Mütter war es, sich das Stillen zu teilen und sich gegenseitig zu entlasten, auch die Bindung zum Kind war ihnen wichtig. Da das zeitliche Priming nicht mehr möglich war, fingen wir mit Domperidon 3 x 10 mg an, steigerten langsam auf 3 x 20 mg und sechs Wochen vor dem errechneten Termin auf
3 x 30 mg täglich. Jetzt begann Nicole mit der Bruststimulation und nach fünf Tagen zeigten sich die ersten Milchtropfen. Nach 14 Tagen Bruststimulation und Handentleerung begann sie, mit einer elektrischen Intervallpumpe mit Doppelpumpset regelmäßig abzupumpen. Die Milchmenge steigerte sich kontinuierlich, so dass zum Zeitpunkt der Geburt reichlich Milch eingefroren war.
Nach der Geburt ihres Sohnes konnte Nicole ihre Partnerin im Familienzimmer unterstützen. Das Pflegepersonal war sehr überrascht über die Möglichkeit des Co-Stillens, aber auch zugewandt.
Wir blieben im engen telefonischen Kontakt und ich lotste die zwei Frauen mit ihrem Söhnchen durch die ersten Stilltage. Im Kreißsaal und die ersten Tage danach bat ich Martina, das Baby regelmäßig oft an beiden Brüsten zu stillen, und dann konnte Nicole nachstillen. Das ist wichtig, damit die biologische Mutter gut in die Laktation kommt. Martina musste in dieser Zeit regelmäßig abpumpen, da sie schon um die 300 ml Muttermilch produzierte. Das konnte der Kleine noch nicht schaffen. Es gab es eine kleine Stillkrise von Seiten des Kindes, da sich Milchspende-Reflex und auch Milchmenge unterschieden, maulte der Kleine manchmal an Nicoles Brust. Durch häufige Telefonberatung und viel Geduld der Mütter sowie Kuscheleinheiten mit dem Baby konnte diese Hürde genommen werden.
Im weiteren Verlauf gab es keine Probleme dieser Art mehr. Nicole stillte den gemeinsamen Sohn morgens vor der Arbeit und pumpte die Milch einmal am Tag ab. Wenn sie nach Hause kam, stillte sie dann wieder bis zum Abend. Somit war auch Martina am Nachmittag etwas entlastet. In der Nacht wechselten sich beide Mütter ab.
Martina sagte: »Stillen ist so viel mehr als Nahrung. Das sieht man bei Nicole und Paul sehr deutlich. Ich bin mir nicht sicher, ob beide eine so innige, liebevolle und außergewöhnlich enge Bindung zueinander hätten ohne das Stillen, so dass ich heute sehr, sehr stolz bin auf meine Frau. Sie und unseren Sohn gemeinsam beim Stillen zu sehen, dass ist auch nach sechs Monaten für mich noch immer wunderschön. Jedes lesbische Paar und jede Adoptivmutter, die sich für den Weg der induzierten Laktation entscheiden, können wir beide nur ermutigen. Es lohnt sich.«
Fallbeispiel II: Ein Baby von der Leihmutter
Frau K. nimmt im April 2022 telefonischen Kontakt zu mir auf, um sich über die Möglichkeit der induzierten Laktation zu informieren. Sie hat selbst vor Jahren ein Kind geboren und ein Jahr gestillt. Auf Grund von Komplikationen (Atonie) kam es zu einer Hysterektomie.
Das zweite Kind wird von einer Leihmutter im Ausland ausgetragen. Nach einer ausführlichen Beratung und Untersuchung wurde ihr nach unserem Schema Domperidon verordnet. Sechs Wochen vor dem errechneten Termin begann sie mit der Bruststimulation per Hand (8 x in 24 Stunden). Nachdem die Brustdrüse mit der Milchbildung begann, pumpte sie im Rhythmus von 2–3 Stunden, dann auch einmal nachts.
Der errechnete Termin war der 11. Juni 2022. Zum Zeitpunkt der Geburt lag Frau K. mit ihrer Milchproduktion bei 200 ml in 24 Stunden. Bei der Geburt des Babys war sie anwesend und konnte die Nabelschnur selbst durchtrennen. Wir hatten im Vorfeld besprochen, dass sie direkt nach der Geburt mit dem Bonden beginnen sollte. Für das Kennenlernen, den Bindungsaufbau und die Milchbildung wäre es förderlich, die ersten Tage mit dem Baby im direkten Haut-zu-Hautkontakt zu bleiben. Das erste Stillen erfolgte in der ersten Stunde nach der Geburt. Das Baby trank regelmäßig alle 2–3 Stunden an beiden Seiten. Ab dem fünften Lebenstag des Kindes wurde über ein Brusternährungsset Formula in kleinen Mengen zugefüttert.
Da die Familie sich noch im Ausland aufhielt, konnten wir uns nur über Medien austauschen. Ich bat Frau K., das Gewicht des Kindes regelmäßig zu überprüfen. So konnte ich den zusätzlichen Bedarf von Formula nach der Gewichtsentwicklung des Kindes regelmäßig errechnen. Frau K. stillte zu jeder Mahlzeit je beide Brüste und im Anschluss nochmals beide Seiten mit dem Brusternährungsset. Durch dieses Wechselstillen war ein zusätzliches Abpumpen mit einer elektrischen Intervallpumpe nicht mehr notwendig. Die Milchbildung ließ sich kontinuierlich steigern. Mit vier Wochen und einem Gewicht von 4.165 g werden noch 3 x 30 ml Formula in 24 Stunden zugefüttert. Das Geburtsgewicht war 3.470 g und wir reduzieren die Formula weiter alle zwei Tage um eine Zufütterung.
Fallbeispiel III: Zwillinge stillen
Kathi und die Ko-Mutter Noemi kamen etwa sechs Wochen vor der Geburt ihrer Zwillinge mit dem Wunsch nach einer induzierten Lakation. Wir entschieden uns für die Nutzung des Schemas ohne Priming. Noemi kam bis zur Geburt in eine gute Milchbildung. Nach der Sectio der reifen Kinder konnten beide von Anfang an stillen. Das primäre Stillen erfolgte durch die leibliche Mutter und danach auch durch die Ko-Mutter. Vom 14. bis 30. Lebenstag war eine geringe Zufütterung von ca. 180 ml/24 h Premilch notwendig. Danach konnten wir bei guter Gewichtsentwicklung beider Kinder die Zufütterung zügig reduzieren.
Noemi und Kathi stillen beide Kinder voll und beide Kinder im Wechsel und sind mit ihrer Entscheidung sehr glücklich. Beide hatten in der Klinik die volle Unterstützung durch das medizinische Personal. Wer die beiden und ihre Kinder kennen lernen möchte, kann sich den Beitrag dazu bei Stern TV von 14.4.2021 ansehen.
Podcast
Mythen und Ammenmärchen
Unter dem Titel »Stillleben – der Podcast mit einem Schuss Muttermilch« sprechen Katrin Bautsch (IBCLC) und Mila Weidelhofer (Journalistin) über alles, was mit der Stillbeziehung zu tun hat. Sie klären über Mythen rund um die Ernährung in der Stillzeit auf, sprechen offen über Stillprobleme und deren Lösungen.
Fazit
Adoptivmütter und Frauenpaare schätzen diese Möglichkeit zum Stillen sehr und die Nachfrage in Deutschland steigt. Leider ist unserer Erfahrung nach die Reaktion des medizinischen Personals nicht immer so positiv wie bei Kathi und Noemi.
Zahlreiche Studien belegen, dass Domperidon zur Milchmengensteigerung wirksam und sicher in der Anwendung ist (siehe auch Seite 14). Wie bei jedem Medikament können Nebenwirkungen auftreten, deshalb muss vor der Verschreibung von Domperidon eine gründliche Anamnese erhoben werden. Zudem ist eine ausführliche Aufklärung über den Off-Label-Use zwingend erforderlich.
Während der gesamten Behandlung muss eine Begleitung durch eine qualifizierte Still- und Laktationsberaterin und eine Ärztin erfolgen, um die Sicherheit und den Erfolg der Behandlung zu gewährleisten.
Literatur
Newman, J., Goldfarb, L. (2000). Dr. Jack Newman’s Guide to Breastfeeding. Newman-Goldfarb Protocols for Induced Lactation. 2002–2019 (Harper-Collins, 2000). Titel in den USA: »The Ultimate Breastfeeding Book of Answers« by Dr. Jack Newman. Prima Publishing, 2000
»