Stichhaltig oder fadenscheinig?
In Anlehnung an vorhandene Leitlinien sind niedriggradige Dammrisse als oberflächliche Verletzungen der Damm- und Vaginalhaut als Dammrisse l. Grades (DR I°), bei möglicher Beteiligung der oberflächlichen Beckenbodenmuskulatur ohne Sphinkter als Dammrisse ll. Grades (DR II°) definiert (AWMF, 2020). Ergänzend sind die möglichen Maßnahmen zur Versorgung aufgeführt (siehe Abbildung 1 im Poster). Diese können eine Naht, keine Naht oder die Naht der beteiligten Muskelschichten bei Verzicht auf eine Hautnaht (bei DR II°) umfassen. Die Versorgung mit einem Gewebekleber bei DR I° findet in der Fachliteratur noch wenig Erwähnung. Aktuelle Studien sind erfolgversprechend und geben einen Ausblick auf eine mögliche zukünftige Erweiterung des Versorgungsspektrums (Feigenberg et al., 2014).
Mehrzahl wird genäht
Eine Übersicht der Dammverletzungen in Deutschland im Jahr 2020 lieferte Daten der klinischen wie außerklinischen Geburtshilfe (IQTIG, 2020; QUAG, 2021). Unter den spontanen und vaginal-operativen Klinikgeburten wurden in knapp 42 % der Fälle Dammrisse erfasst. Über 95 % davon waren Dammrisse I. oder II. Grades. Zahlen zu deren Versorgung waren in der Bundesauswertung Geburtshilfe (IQTIQ) nicht zu finden (AWMF, 2020).
Das Statistische Bundesamt veröffentlicht allerdings Daten zur Rekonstruktion weiblicher Geschlechtsorgane nach Ruptur post partum nach dem Operationen- und Prozedurenschlüssel. Auf Anfrage wurde die Aufschlüsselung der chirurgischen Eingriffe an Verletzungen am Damm bereitgestellt (Statistisches Bundesamt, 2022). Die Zahlen zu den erfassten Dammrissen in der Bundesauswertung werden denjenigen der versorgten Dammrisse (Statistisches Bundesamt) in der Veröffentlichung nicht direkt gegenübergestellt.
Eine eigens durchgeführte Aufschlüsselung lässt jedoch den Schluss zu, dass die Mehrzahl der niedriggradigen Dammrisse in Deutschland im klinischen Setting genäht wird. Bestätigt wird die Aussage durch die Auskunft eines Uni-Klinikums, welches 2020 über 99 % der DR I° und DR II° mit einer Naht versorgte (anonymes Interview, 2022).
In der Außerklinik wurden im selben Jahr bei 38,4 % der geplanten und außerklinisch begonnenen Geburten Dammrisse erfasst. Bei über 97 % handelte es sich dabei um DR I° und DR II°. Daten zur Versorgung fehlen im Qualitätsbericht der QUAG (QUAG, 2021).
Eine im Rahmen einer Masterarbeit durchgeführte Befragung und Berichte aus der Praxis lassen darauf schließen, dass der Verzicht auf eine Naht bei weniger schweren Dammrissen in der außerklinischen Geburtshilfe geläufiger ist (Kvasnicka et al., 2015).
Naht nicht immer notwendig
Zur Beantwortung der Forschungsfrage erfolgte eine nicht systematische Recherche von Forschungsarbeiten. Relevant ist in erster Linie die S3-Leitlinie »Vaginale Geburt am Termin«, die konkrete Handlungsanweisungen für niedriggradige Dammrisse formuliert: »Aufgrund der besseren Heilungserfolge soll Frauen mit einem DR ll° die Naht der betroffenen Muskelschichten angeraten werden. Ist bei einem DR ll° nach der Naht der Muskelschicht die Haut gut adaptiert, so muss diese nicht genäht werden.«
Diese Aussage hat einen Empfehlungsgrad A (stärkste Empfehlung). Der Evidenzgrad liegt hingegen bei 4 (niedrigster Grad). Dennoch kommt die Leitlinie insgesamt auf einen Konsens von 100 %.
Alternative Optionen werden nicht erwähnt. Alle Autor:innen der S3-Leitlinie sind sich einig, dass ein DR ll° genäht werden sollte, allenfalls die Haut nicht, die Muskelschichten jedoch immer, mit Berufung auf den besseren Heilungserfolg.
Im Fall eines DR l° heißt es ebenfalls, dass eine Naht den Heilungserfolg verbessere. Bei gut adaptierten Wundrändern sei eine Naht nicht notwendig (AWMF, 2020). Die Leitlinie bezieht sich überwiegend auf die NICE-Guidelines von 2017 (NICE, 2017). Diese wiederum zitieren in erster Linie ein Cochrane Review von 2011 (Elharmeel et al., 2011) und zwei randomisiert-kontrollierte Studien von 2003 und 2000 (Fleming et al., 2003; Lundquist et al., 2000).
Ist weniger mehr?
Es lassen sich zu der Thematik wenig aussagekräftige Zahlen recherchieren. Was die vorliegenden Studien verdeutlichen, wurde in Abbildung 2 zusammengefasst: Mit Naht besteht ein leicht erhöhter Analgetikabedarf und die Wundheilung verläuft anfangs etwas zügiger. Ohne Naht ist das allgemeine Wohlbefinden etwas höher. Nach sechs bis acht Wochen sind zwischen beiden Gruppen keine signifikanten Unterschiede mehr feststellbar (Langley et al., 2006).
Aus den Forschungsergebnissen lässt sich aufgrund limitierter Evidenz keine klare Empfehlung ableiten. Die Studien kommen zu dem Schluss, die Entscheidung der klinischen Expertise der beteiligten Hebammen und Ärzt:innen sowie den Präferenzen der Gebärenden nach informierter Entscheidungsfindung zu überlassen.
Die S3-Leitlinie hingegen empfiehlt die Naht – zumindest des DR II° – auf Grundlage der gleichen Quellen und Studien. Dies erachteten die Autorinnen durchaus als bemerkenswert und suchten das Gespräch mit einer Oberärztin und stellvertretenden Klinikdirektorin an einem deutschen Uni-Klinikum, die die folgende Perspektive vertritt: »Ja, es wird zu viel genäht. Warum? Weil die Ärzt:innen ausgebildet werden wollen und auf ihre Zahlen kommen müssen. Weil sie bloß nichts falsch machen wollen und die ältere Ärzt:innengeneration es nicht anders kennt. Es wurde einfach schon immer so gemacht«. Die oben bereits erwähnten Zahlen des Uni-Klinikums belegen, dass dort 2020 hausintern mehr als 99 % aller DR l° und DR ll° genäht wurden. Diese hohe Zahl überraschte auch die Oberärztin. Obwohl es regelmäßig thematisiert werde und klinikweit der Grundsatz »Less is more« gelte, sei es sehr zäh, etablierte Praktiken zu ändern.
Individuell abwägen
Vor dem Hintergrund dieser Widersprüche lassen sich folgende allgemeine Schlussfolgerungen und Empfehlungen ziehen: Dass niedriggradige Dammrisse genäht werden sollten, ist nicht so stichhaltig, wie die S3-Leitlinie es formuliert. Zudem bezieht sich die Leitlinie stark auf Expert:innenmeinungen und nicht ausschließlich auf externe Evidenz, andernfalls – so vermuten die Autorinnen – würden die Empfehlungen möglicherweise anders lauten.
Ein Teil der DR ll° sollte ohne Zweifel durch eine Naht versorgt werden. Wenn der Riss jedoch moderat ist und sich gut adaptiert, wenn die Blutung rasch versiegt und im Wochenbett viel Bettruhe gehalten werden kann, dann kann das in den Studien zitierte »bessere Allgemeinbefinden« im individuellen Fall durchaus zur Empfehlung führen, lieber nicht zu nähen, sondern nach Fritsch zu lagern und nichts weiter zu tun.
In Betracht zu ziehen ist dieses Vorgehen insbesondere angesichts der Fälle, in denen die Naht nicht fachgerecht erfolgt oder langfristige Beschwerden verursacht. Hier gilt es, etablierte Praktiken zu prüfen und dem Grundsatz des »weniger ist mehr« zu folgen.
Im konkreten Fall heißt das: Die Hebamme oder Ärzt:in sollte das Thema mit der Frau besprechen, gemeinsam evaluieren, welche Ressourcen individuell zur Genesung vorhanden sind, und gemeinsam zu einer individuellen Entscheidung kommen.
Literatur
Anonymes Interview. (2022).
Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft e.V. (DGHWi). (2020). S-3 Leitlinie Die vaginale Geburt am Termin, Version 1.0, 015-083. AWMF. 2020 www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/015-083l_S3_Vaginale-Geburt-am-Termin_2021-03.pdf
Elharmeel, S.M., Chaudhary, Y., Tan, S., Scheermeyer, E., Hanafy, A., van Driel, M.L. (2011). Surgical repair of spontaneous perineal tears that occur during childbirth versus no intervention. Cochrane Database Syst Rev, (8). www.readcube.com/articles/10.1002%2F14651858.cd008534.pub2
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